Sierra Leone 2019

Carlos


Ja das Leben in Freetown, das ist Abenteuer und oft ziemlich verrückt. Ständig passieren Dinge die so außergewöhnlich sind. Und witzig und genau das macht das Leben dort so toll. Jeder Tag bringt ein anderes Erlebnis mit sich. Manchmal lustig, manchmal traurig, aberteuerlich, verrückt. 

So verrückt war auch einer meiner Samstage im September. Am Wochenende haben wir uns immer auf dem Balkon getroffen, zusammen Kaffee getrunken, gefrühstückt. Da ich diejenige unter uns Teamkollegen war, die immer sehr früh aufsteht, war es meist an mir den Kaffee zu kochen. Ich habe es dann aber auch immer noch genossen, allein bei nem Kaffee, Sonnenschein, den Tag beginnen zu lassen. So saß ich also eines Samstages auf dem Balkon und habe so das Geschehen unten auf der Straße beobachtet. Plötzlich lautes Geschrei und Menschen kommen aus allen Richtungen zu unserem Tor gerannt. Da ich von oben nicht sehen konnte was los war, bin ich direkt in meinen Schlafshorts runter auf die Straße. Es juckt übrigens dort auch niemanden was du anhast oder ob deine Haare gestylt sind oder nicht. Ich war ziemlich oft im Pyjama oder in der Unterhose auf der Straße wenn keine Zeit war was anzuziehen. Oder kurz in der Schlafhose zur nächsten Kreuzung um Brot zu kaufen. Es interessiert niemanden. Das ist wirklich so entspannend! 

Also, ich runter, Tor auf und was glotzt mich an? Ein Krokodil! Ich war ja einiges gewohnt, aber ein Krokodil? Zwischen Wohnhäusern? Im Busch, ja da gibts welche. Aber in der Stadt? Wo kam das nur her? Ein paar Nachbarn haben es geschafft das kleine Kroko mit Schnüren zu fesseln und das Maul zuzubinden. Es war noch ein junges Krokodil, vielleicht 1 1/2 Jahre alt. Die Nachbarn haben es wohl auf der Wiese vor unserem Haus entdeckt und es gefangen bevor es jemanden beißen konnte. Auf die Frage was jetzt damit passiert meinten sie:" das verkaufen wir jetzt und verdienen gut Geld damit." Wer kauft denn bitte ein Krokodil? Einfach, die Leute in den Blechhütten. Die legen zusammen und dann benutzen sie das Kroki für Opfergaben oder sie essen es. Oh No! Auf keinen Fall tötet hier jemand dieses arme Vieh. Und eh ich mich versah war ich Besitzerin eines Krokodils. Für umgerechnet 30 Euro. So und was dann? Also die Jungs haben es auf unser Grundstück geschleift und an nem Pfosten festgebunden. So, dass es noch genug Auslauf hatte. Wir haben dann noch so ne große blaue Tonne organisiert und umgekippt auf den Boden gelegt und mit Wasser gefüllt. Tja, dann hatte ich plötzlich ein neues Haustier. Ich habe es erstmal in Ruhe ankommen lassen und hab mich zurück auf den Balkon gesetzt. Als meine Mädels sich so nach und nach zu mir gesellten, musste ich ihnen natürlich beichten, dass wir jetzt ein Haustier haben. Ein ungewöhnliches. Wir tauften ihn Carlos. Dass es ein Männchen war, haben wir einfach so beschlossen, denn natürlich hat sich keiner getraut nachzusehen. Nicht dass ich wüsste wie die Geschlechtsorgane eines Krokodils aussehen...

So kam Carlos zu uns. Wir haben dann rausgefunden, dass ein Mann aus der Nachbarschaft den irgendwo im Busch gefangen hatte und ihn als Haustier hielt. Geht gar nicht. Wilde Tiere gehörten in die Wildnis. Er wollte es zurückhaben, aber ich habe es ihm nicht zurückgegeben. Carlos blieb bei uns. Am Anfang wollte er nicht fressen. Ich dachte, weil er irgendwie traurig ist. Hab das beste Fleisch im Supermarkt gekauft, Huhn, Fisch, Ziege, Kuh. Nichts davon mochte er. Ich habe einen guten Freund in Freetown, der nimmt immer wieder wilde Tiere bei sich auf wenn sie krank sind oder sich was gebrochen haben. Den habe ich dann angerufen und um Rat gefragt. Nachdem ich eine Woche lang mit einer Gabel am Besenstiel versucht habe Carlos zu füttern. Er hat mir erklärt, wenn Krokodile in eine neue Umgebung kommen dauert es 7-10 Tage bis sie anfangen zu fressen, das ist normal. Ok, wir haben abgewartet und tatsächlich, irgendwann hat er gegessen. Carlos war bis kurz vor meiner Abreise bei uns. Ich habe dann irgendwann an einem Strand einen Platz für ihn gefunden. Dort gibt es einen Fluss der ins Meer läuft, dort leben noch mehr Krokodile. Ein bisschen mit den Dorfbewohnern dort verhandelt und sie waren bereit, Carlos durfte dort einziehen. Und so kam es, dass wir ein paar Tage vor meiner Abreise den kleinen Carlos zu seinem neuen Zuhause gebracht haben. Die Tage danach waren komisch, so vom Balkon schauen und kein Kroko im Hof. Unsere Haushälterin war sehr traurig. Die ersten paar Wochen hat sie mir die Hölle heiss gemacht. Ich soll Carlos wegschaffen, entweder er oder sie! ich konnte sie überzeugen, dass beide bleiben und sie hat sich an ihn gewöhnt. Als wir ihn weggebracht haben, meinte sie dann:" jetzt wo ich mich an ihn gewöhnt habe..."

Tja, Carlos ist jetzt frei. An einem wunderschönen Ort. 

  • Carlos in seinem neuen Zuhause

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    Auswilderung

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    Auf dem Weg zum neuen Zuhause

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    Erstmal einfangen

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    Carlos chillt im Hof

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    Blah und ich beim Auswildern

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Meine verrückteste Kekeh Fahrt


In Freetown gibt es verschiedene Möglichkeiten um von A nach B zu kommen. Da gibt es die Podapoda's, Kleinbusse die so vollgestopft mit Menschen sind, dass man die lieber meidet. Ist die billigste Art um vorwärts zu kommen, aber auch die schlimmste. Dann gibt es normale Taxis, die sind am teuersten, die Autos schrottähnlich, aber sie fahren. Die Okada's sind Moped's die an die Ex-Rebellen verteilt wurden um sie ruhig zu stellen nach dem Krieg. Sie wurden so wieder in die Gesellschaft integriert und man gab ihnen eine Möglichkeit Geld zu verdienen. Die Rebellen sind meist Ex-Kindersoldaten. Die Rebellen haben dem Tod ständig ins Auge geblickt und auch getötet. Dementsprechend fahren sie auch, sie fürchten nicht den Tod. Die ersten Monate habe ich mich nicht auf so ein Moped gewagt, aber es ist definitiv die schnellste Art zum Ziel zu gelangen. Denn die quetschen sich einfach durch jede Lücke und fahren einfach wie die Sau. Helme gibt es meist nicht, manchmal hat ein Fahrer einen Helm für den Mitfahrer dabei. Das sind dann gerne mal Fahrradhelme oder Bauhelme, Gurte sind natürlich längst verloren, man hält den Helm also mit der Hand fest. Also ob man einen Fahrer wählt, der einem einen Helm gibt oder ohne Helm fährt, macht echt keinen Unterschied. Irgendwann habe ich mal angefangen Okada zu fahren, weils mir einfach zu blöd war, stundenlang im Stau zu stehen. Todesmutig, leichtsinnig? Absolut. Aber es ging ja zum Glück gut aus.

Und am Ende sind da noch die Kekeh's, auch bekannt als Tuktuk. Mit denen bin ich eigentlich am liebsten gefahren. Die meisten haben nämlich Musik an Bord und die Fahrer sind witzig und man kann sich chillig während der Fahrt unterhalten. Habe ziemlich coole Typen in Keke's kennengelernt, Fahrer und Mitfahrer. Manchmal habe ich ne Pizza mit dem Fahrer geteilt, manchmal Cashew Kerne. Also, es war echt immer witzig. Über meine verrückteste Keke Fahrt möchte  ich jetzt berichten. Also die Fahrer aller Fahrzeuge sind irgenwie verrückt, muss man auch sein, wenn man in Freetown fährt. Ich habe es geliebt da Auto zu fahren, denn es gibt überhaupt keine Regeln. Der schnellere und größere gewinnt, es wird gequetscht und gehupt und gemotzt. Fantastisch. Macht absolut Spaß. 

Zurück zur abgedrehtesten Kekeh Fahrt. Ich hatte einen Termin beim Visa Amt und wusste nur die Adresse, nicht den Weg. Bin bei nem Kekeh eingestiegen und habe versucht ihm klar zu machen wo ich hin will. Wir haben uns dann so durchgefragt und schliesslich waren wir auf dem richtigen Weg. Wir waren auf einer steilen Straßen, Richtung Bergauf. Da kommt uns ein Pritschenwagen mit Polizei und Soldaten entgegen. An den Anblick muss man sich gewöhnen, Soldaten sind überall, Polizei auch. Und alle mit Gewehren bewaffnet. Aber die sind eigentlich alle ganz lieb. Ziemlich nutzlos, weil total korrupt, aber manchmal sorgen sie doch für Ordnung. Z.B. wenn ein Taxi an einer Stelle anhält an der es eigentlich nicht halten darf. Dann jagen die den Fahrer schon mal weg. Die Fahrgäste auch. Die Waffen benutzen sie nicht. Sie benutzen was in Sierra Leone jeder benutz, den Bambus-Stock. Da gibts dann gerne mal eins aufn Po. Ich habe mir auch mal eine Klatsche eingefangen als ich ein Taxi an einer falschen Stelle angehalten hab und auch noch auf der Straße lief und nicht auf dem Bürgersteig. Die Bürgersteige sind übrigens Teil der Straße und nur durch eine Schnurr abgetrennt. Also wenn du vor der Schnurr läufst, dann gibts schon mal nen Klaps mit dem Stock.

So, also da kommen uns Polizisten und Soldaten entgegen, so 10-15 Männer, auf Pritschen hinten auf dem Auto. Mein Fahrer sieht die und fährt plötzlich rückwärts den steilen Berg runter. Die Polizei verfolgt uns. Wir in Schlangenlinien immer schneller, ich hab den Fahrer angemotzt: "Was zur Hölle machst du?" Er hat nix gesagt, als er gemerkt hat, dass er keine Chance hat zu entwischen ist er einfach rausgesprungen und weggerannt. So also jetzt stellt euch mal vor, ihr sitzt in nem Kekeh, es geht rückwärts den Berg runter und der Fahrer haut einfach ab und lässt euch drin sitzen. Das Kekeh immer fröhlich weiter abwärts. Ich konnte überhaupt nicht reagieren. Weder konnte ich nach vorne klettern um das Ding zum anhalten zu bringen, noch Schreien. Ich war irgendwie so überrumpelt, hab gar nicht geschnallt was da vor sich geht. Die Soldaten sind in der Zeit vom Auto gesprungen und haben die Verfolgung aufgenommen. Zwei sind mir hinterher und zu mir ins Kekeh gesprungen und haben es zum Stehen gebracht. Nach dem Schock allein in dem Ding abwärts zu rollen, fand ich mich also zwischen zwei Soldaten mit Maschinengewehren wieder. Ich hatte keine Angst, ich war nur so verdutzt. Passierte das echt grad? Hab die beiden nur mit großen Augen angesehen und gefragt: "Verhaftet ihr mich? Was habe ich getan?" Sie mich freundlich angelacht und geantwortet:" ne, der Fahrer ist falsch in die Einbahnstraße gefahren, das kostet Strafe, da hat er Angst gekriegt und ist abgehauen, aber den kriegen wir schon noch." Ok, wow, also es bockt echt einfach niemanden nichts in diesem Land und dann biegt einer falsch in die Einbahnstraße ab und 15 Soldaten verfolgen ihn? Und ich muss um mein Leben bangen? Wegen sowas?! Ich konnte es nicht fassen und musste dann echt lachen. Dieses Land ist so verrückt! Jedenfalls musste ich natürlich aussteigen, das Kekeh wurde beschlagnahmt, ich in brütender Hitze zu Fuß weiter. Der Kommandant hat mir noch gezeigt wo ich am schnellsten ein Moped herkriege und mich losgeschickt. Nach ein paar Metern ruft er mich zurück und meint:"Warte, ist echt zu heiss zu Fuß, ich habe einen meiner Leute geschickt, der holt dir ein Okada." Kam auch direkt eins. Ok, also nach dem ganzen Theater darf jetzt ein Okadafahrer mit mir weiterfahren, falsche Richtung Einbahnstraße?! Er lacht mich an und sagt:" klar, jetzt habe ich es ja erlaubt und ich will nicht, dass du so weit laufen musst." Alter, ihr seid wirklich, wirklich verrückt! Aber ich war dankbar, hätte nämlich wirklich keine Lust gehabt zu laufen. 

Bin dann irgendwann endlich bei meinem Termin angekommen und danach noch ins Krankenhaus, eines meiner Mädels besuchen. Als ich dann Abends vorm Krankenhaus ein Kekeh angehalten habe, jetzt ratet wer vor mir hält? Ja, der Kekeh Fahrer vom Morgen. Das war noch das Verrückteste an der ganzen Sache. Von all den hunderten Kekeh's treffe ich abends ausgerechnet den wieder! Unfassbar. Er hält an und grinst und meint so:" hey, kennst du mich noch? Du bist heut morgen mit mir gefahren. Ich musste mein Kekeh bei der Polizei auslösen und bin jetzt echt pleite, kannst du mir bisschen Geld geben?" Hab ihn ausgelacht und ihm geraten, schnell zu verschwinden. Erst mein Leben aufs Spiel setzen und dann wollte er noch Geld dafür. Abends zu Hause saß ich dann auf dem Balkon mit meinen Mädels und als ich es erzählt habe, haben wir echt viel gelacht. Da fand ichs dann auch wieder witzig. Solche Geschichten sind aber keine Ausnahme. Sowas ist mir ständig passiert. Deshalb liebe ich das Leben in Freetown so sehr, du weißt einfach nie was passiert. Jeder Tag ist ein Abenteuer :-)

Woher nimmt man immer wieder neue Kraft bei all dem was man da so erlebt? Gibt viele verschiedene Möglichkeiten, nachstehend eine davon. Ich hatte eine ganz schwierige Zeit hinter mir, vielleicht die schwerste überhaupt. Es ging mir echt nicht gut und ich war so ziemlich mit meiner Kraft am Ende. Seelisch aber auch körperlich. Ich habe mir leider Typhus eingefangen und das hat mich etwas aus der Bahn geworfen. Lag 2 Wochen flach mit Fieber, heftigen Kopfschmerzen, Durchfall und mein ganzer Körper tat weh. War total schlapp und habe es kaum aus dem Bett geschafft. Man ist dort sowieso nie ganz fit, das Klima, der ewige Staub und die Verbrennung von Müll. Immer wieder Magen-Darm Probleme und Kopfweh. Da haut einen Typhus ganz schnell um. Naja, also körperlich war ich etwas angeschlagen und dann ist auch ziemlich viel Schlimmes passiert, so dass ich im Kopf auch echt ne Zeit lang nicht mehr so richtig klar kam. 
Strandwochenenden, mal ausgehen und richtig abfeiern, deine Teamkollegen, das Alles hilft. Aber was mich echt richtig richtig aufgebaut hat, ein Teil meiner Familie hat mich besucht! Ja, echt! Voll cool oder? Wer verbringt freiwillig seinen Urlaub in einem Dritte-Welt Land? Eigentlich niemand. Ich habe aber die beste Familie der Welt und meine Mama, meine Tante und mein Onkel haben mich tatsächlich besucht. Auch noch über meinen Geburtstag. Das war mein allerschönstes Geburtstagsgeschenk! Also die drei sind alle über 60 und es verirrt sich eigentlich nie ein Tourist nach Sierra Leone. Sie haben auch bisschen überlegt, aber am Ende sind sie doch angereist. Ich bin total stolz, dass sie sich getraut haben! Sie kamen wirklich zur richtigen Zeit, genau da hab ich das gebraucht. Und sie haben mich echt ausgehalten, ich war nämlich wirklich fertig und oft gereizt oder meckerig draus. Aber wir hatten trotzdem eine sehr schöne und richtig aufregende Zeit zusammen. Man hört immer Bürgerkrieg, Ebola, Malaria...usw. aber dass Sierra Leone auch so viel mehr ist, das weiß kaum einer. Eines der schönsten Länder in denen ich je war. Und definitiv Traumstrände, ohne Touris :-)
Also, die drei sind nach ein paar Impfungen endlich angereist und ich habe sie am Flughafen abgeholt. Direkt das erste Abenteuer, denn vom Flughafen nach Freetown gehts mit der Fähre. Da stopft sich dann rein, was rein passt. Zwischen all den Passagieren eifrige Verkäufer die einem Früchte, Süßigkeiten, Getränke oder auch gerne mal Bibeln andrehen wollen. Kaum 5 Minuten da und direkt voll Afrika Feeling :-) Wir vier Weißen also zwischen hunderten schwarzen Einheimischen, aber sie fanden es gleich richtig gut. Unser Fahrer Alpha, der uns die nächsten zwei Wochen durchs Land kutschieren sollte, hat sich super mit allen verstanden und so haben wir 5 uns aufgemacht in ein echtes Abenteuer. 
Die ersten 2 Tage waren wir in Freetown, ich musste ihnen natürlich erstmal meine Hometown zeigen. Wo ich wohne, mit wem ich wohne, wo ich arbeite, einkaufe, lebe. Wir haben auf dem Markt Stoff eingekauft, haben mit den Kids im Kinderhaus gefeiert, haben die erste nationale Mahlzeit zu uns genommen, sind durch die Slums gewandert. Immer in Begleitung von einigen meiner lokalen Freunde. Und meine Familie ist natürlich auch deren Familie. Alle haben meine Family herzlich aufgenommen, sie wurden geknutscht und gedrückt, und direkt für gut befunden. Nachdem wir einige der guten Restaurants in Freetown ausprobiert hatten, die Stadt erkundet, alle Geschenke verteilt, haben wir uns aufgemacht zu unserem ersten Strand Aufenthalt. Für die erste Strandübernachtung habe ich sie gleich ins kalte Wasser geschmissen. Ab zu meinem Lieblingsstrand Resort. Das sind aus Steinen und mit Stroh bedeckte Hütten die von einer lokalen Familie geführt werden. Fließendes Wasser gibt es nicht, auch keinen Strom, nur einen Generator der ein paar Stunden am Tag läuft. Ich habe aber für genug Stirnlampen und Taschenlampen gesorgt. Mein Onkel und ich haben die Eimerdusche genutzt, für meine Mom und meine Tante kam nur Katzenwäsche in Frage :-)
Gekocht wird dort auf einer Feuerstelle und zu essen gibt es, was das Meer an dem Tag so hergibt. Total Basic. Kein Luxus. Aber der Strand ist einfach traumhaft und es kommt kaum jemand dahin. Man hat den ganzen Strand für sich. Hin kommt man da nur mit einem alten Holz Kanu, also schon die Anreise ist ein Abenteuer. Aber, es hat ihnen gefallen und spätestens als sie ihre erste frisch gepflückte Kokosnuss ausgeschlürft haben, waren sie happy. Wir waren dort zwei Tage und haben erstmal richtig ausgespannt. Dann hat uns Alpha wieder abgeholt und wir haben uns aufgemacht ins Landesinnnere. Ab in den Busch. Und das war absolut Abenteuer. Selbst ich habe zwischendurch gedacht, ok, wow, das ist jetzt vielleicht doch zu viel. Wir sind zuerst zu einem meiner Jungs gefahren, in ein Diamentenschürfgebiet in dem ein ehemaliger Junge von mir jetzt wieder bei seiner Familie wohnt. Jamal war total überrascht mich zu sehen und hat sich sehr gefreut. Für meine 3 Mitreisenden war es toll durchs Land zu fahren, Busch-Straßen, eine Wahnsinns Landschaft. Wir haben eine Nacht dort in einem Hotel verbracht und wollten dann auf eine Insel die inmitten des größten Flusses liegt. Tja, und an dieser Stelle nochmal SORRY, ich habe nicht bedacht, dass wir die "Abkürzung" durch den Busch vielleicht nicht hätten nehmen sollen. Die Regenzeit war gerade vorbei und die Straßen (mit Straße meine ich steinige Pisten, voller tiefer Schlaglöcher und tiefen Gräben voller Wasser und Matsch) waren in einem echt schlimmen Zustand. Ich glaube, zwischendurch hat mich meine Familie echt gehasst. Und Alpha erst recht, war ja sein Auto. Aber er war erstaunlicherweise die ganze Zeit gut drauf und hat gelacht. Naja, was blieb ihm anderes übrig. Also wir los in den Busch. Ich habe groß verkündet: " Zwei Stunden Fahrt und dann sind wir auf der Insel, können eine Bootsfahrt machen und uns die Affen dort ansehen". Hm. Aus zwei Stunden wurden zwölf Stunden...
Wir sind echt 12 Stunden quer durch den Busch. Zum Glück hatten wir genug Wasser dabei und Kekse und Nüsse. Denn im Busch gibt es nichts. Dschungel. Palmen. Gebüsch. Ab und zu ein Dorf, bestehend aus Lehmhütten. Hat natürlich nicht lange gedauert bis wir einen Platten hatten, kein Wunder bei der Holperpiste. Aber bevor wir richtig mit Reifenwechsel anfangen konnten, kamen schon ein paar Einheimische aus dem Dschungel und haben das übernommen. Während wir bei 40 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit unter ein paar Palmen den Schatten gesucht haben. Als wir das hinter uns hatten ging es nur kurze Zeit weiter. Vor uns tauchte ein LKW auf, tief im Schlamm eingegraben. Kack Regenzeit! Immer mehr Leute kamen angerannt um den Laster da auszugraben, aber das hat natürlich gedauert. Irgendwann konnten wir uns dann rechts vorbei quetschen und weiterfahren. Ein netter Herr hat uns da irgenwie vorbei gelotst. Der meinte dann noch: jetzt wirds erst richtig schlimm, also ich fahr mit dem Moped (auf dem schon 2 andere saßen) vor und bei jeder kritischen Stelle lotse ich euch durch. Ok, wow. Es wurde richtig heftig. Im Schneckentempo, der Mann vor uns und hat zentimeter für zentimeter angezeigt wo wir fahren konnten. Sonst wären wir nämlich die nächsten gewesen die im Schlamm versunken wären. Der liebe Kerl ist echt kilometerweit immer vorgefahren, abgestiegen, durch den Schlamm geholfen, wieder aufs Moped bis zur nächsten Schlammgrube. Ich bin auch zwischendurch ausgestiegen und bin durch die Pfützen vorgelaufen um zu sehen ob wirs mit dem Auto durch schaffen. Wenns noch unterm Knie blieb, haben wir uns getraut. Tja und so wurden aus 2 Stunden am Ende 12 Stunden. Wir waren echt alle total müde und kaputt. Deswegen sind wir in die nächste Stadt und haben uns ein Hotel gesucht. Bis auf die Insel haben wir es an dem Tag nicht mehr geschafft. Aber das Hotel war super, das hat uns ein bisschen entschädigt. Gab sogar warmes Duschwasser! Am nächsten Tag sind wir dann wieder über Holperstraßen zur Insel. Das Auto haben wir in einem Buschdorf abgestellt. Den Dorfbewohnern ein bisschen Geld fürs aufpassen gegeben und wieder ab auf ein Boot. In dem Dorf hat meine Mutter übrigens ihr Lumpenmädchen getroffen. Sie hat dieses Mädel bis heute nicht vergessen und redet immer wieder von ihr. Das Mädchen hatte ein richtig staubiges dreckiges Kleid an, das so verlöchert und kaputt war, dass es noch an einem Träger an einer Schulter an ihr hing. Wie ein Lumpen halt. Tja, solche Kids gibts hunderte. Aber meine Mutter hat halt dieses eine getroffen und sie leidet noch heute daran, dass es keinen Laden gab um dem Kind Kleidung zu kaufen.
Auf der Insel war die Unterkunft nicht ganz so schön und auch sehr basic. Das Essen traditionell. Aber wir wurden satt. Und nach ein paar Bierchen hatten wir echt einen lustigen Abend. Tagsüber haben wir noch ne Bootsfahrt auf dem riesigen Fluß gemacht. Mama hat sich entschieden lieber zu chillen und ich muss sagen, das war eine gute Entscheidung. Sie hätte mich da verflucht für den Ausflug. Wir waren mit Kanus unterwegs, Tante und Onkel und ein Bootsführer in einem, Alpha, ich und ein weiterer Bootsführer in dem anderen. Zuerst war es echt schön. Dann zogen Wolken auf. Der Himmel wurde dunkel und es war eine Frage der Zeit bis da ein heftiges Gewitter kam. Die Strömung wurde so stark, dass unsere Kapitäne es nicht mehr geschafft haben zurück zu rudern. Also alle raus aus dem Boot, ein Führer mit uns durch den Busch bis zu einer Stelle wo wir wieder ins Kanu konnten. Der andere Führer mit den beiden Booten auf dem Fluß zurück Richtung 'Hotel'. Tja, die Strömung und die Wellen waren so schlimm, dass er gekentert ist, seine Schuhe und die Paddel verloren hat. Wir durch den Busch, in Flipflops wohlgemerkt, weil wir ja nicht damit gerechnet haben laufen zu müssen. Im Busch mit kurzer Hose und Flipflops ist echt keine so ganz gute Idee. Erstens sinkt man ständig im Matsch ein und der Schuh bleibt stecken, zweitens kreucht und fleucht da so einiges...
Mein Onkel vorneweg, ich hinterher, haben wir Alpha und meine Tante noch auf die ziemlich große Ameisenstraße hingewiesen. Die zwei schön stehn geblieben um zu kucken, bis das Geschrei losging. Beide sind von den Ameisen attackiert worden. Die sind halt einfach überall hingekrabbelt und haben zugebissen. Am Ende haben beide ihre Hosen runtergelassen und standen halbnackt im Busch um die Viecher wieder vom Körper zu kriegen. Jetzt lachen wir da Alle drüber. In dem Moment haben nur mein Onkel und ich gelacht, die zwei Armen haben geschrien. Es tut mir echt leid, dass ich nicht helfen konnte und nur lachen musste, aber der Anblick wie meine Tante mit einem Schwarzen da unten ohne im Busch steht und sie sich überall auf den Körper schlagen, das war einfach zu witzig!
Also der Ausflug zur Insel war echt Abenteuer und vielleicht etwas zu viel. Aber ich wusste ja vorher auch nicht, wie das ausartet. 
Wir sind dann noch einen Tag durchs Land gecruist, haben immer mal wieder angehalten um eine frische Ananas zu kaufen oder Gummibärchen an Kids zu verteilen. Dann gings zurück Richtung Freetown. Dort haben wir noch ein paar Tage in verschiedenen Strandunterkünften, meist Hütten, verbracht. Immer fast allein am Strand. Die endlosen weißen Sandstrände sind absolut Touristen-frei. Einfach traumhaft. Nach zwei weiteren Tagen in Freetown mussten sie dann schon wieder abreisen. Der Urlaub war echt abenteuerlich und ich bin mir sicher, zwischendurch haben sie mich verflucht. Aber sie haben es auch genossen. Und das Land und seine Menschen haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und ich war wirklich total dankbar für ihren Besuch! Hat so gut getan und meine Batterie wieder aufgeladen. Es hat mich so gefreut, meiner Familie zu zeigen wo ich lebe und arbeite. Was so meine alltäglichen Herausforderungen sind. Sie verstehen so viel besser wenn ich etwas erzähle, weil sie es gesehen haben. Das hat auch meine Rückkehr viel einfacher gemacht, weil sie verstehen, dass ich mich verändert habe, dass ich manchmal zurückgezogen vor mich hinlebe, das ich immer noch verdaue und verarbeite. Plenty Tenki an die beste Familie der Welt! Hut ab vor der Senioren-Mannschaft die sich getraut hat ihren Urlaub in diesem verrückten Land zu verbringen. Die das Alles so mitgemacht haben, obwohl es manchmal echt heftig war. Ihr seid die Besten :-)
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Das Baby in der Pappschachtel


(links mein Freund Alpha und ich)


Es ist 2 Uhr mittags und die Sonne brennt unermüdlich. Die Luftfeuchtigkeit von nahezu 100 Prozent gibt mir den Rest als ich mich auf den Weg mache um auf dem Markt Obst und Gemüse einzukaufen. Der Schweiß läuft mir in die Augen und mich durch die Menschenmassen zu quälen, gehört um diese Uhrzeit nicht zu meinen liebsten Beschäftigungen. 

Ich bin auch zu erschöpft um lange mit den Marktfrauen zu handeln und zahle nach kurzer Zeit den verlangten Preis. Normalerweise macht es mir Spaß, hin und her diskutieren, mich mit den Menschen, die auf der Straße um ihr Leben kämpfen, zu unterhalten. Jetzt aber, bei der Hitze ist mir das zu viel und ich bin schon wieder auf dem Rückweg nach Hause als ich meinen Freund Alpha 

auf der anderen Straßenseite entdecke. Auch er hat mich gesehen und wir treffen uns in der Mitte der Straße um uns zu begrüßen und einen kurzen Plausch zu halten. Er hat ein paar Freunde dabei und ich merke gleich, keiner von ihnen ist gut gelaunt. Eigentlich sind die Menschen hier, trotz großer Armut, meist in guter Stimmung und haben immer ein Lächeln im Gesicht. Ich frage ihn was los ist, ich merke doch, wie bedrückt sie alle sind. Er erzählt mir, dass sein Freund seinen Sohn verloren hat. Er ist vor ein paar Stunden gestorben. Der Junge war 5 Monate alt. Woran er gestorben ist, wissen sie nicht. Das ist meist so. Eine Obduktion gibt es nicht und eigentlich interessiert es auch keinen. Was ändert das schon. Das Kind ist tot und eine Diagnose bringt es nicht zurück.

Ich nehme den Vater fest in den Arm und er versucht seine Tränen vor mir zu verbergen. Der Junge heisst Ali und es ist bereits das zweite Kind das der Vater verloren hat. Und auch das ist hier ganz normaler Alltag. Mindestens ein Kind, meist einige mehr, hat jede Familie zu betrauern. 

Mein Freunde erzählen mir, dass sie kein Geld für eine Beerdigung haben und jetzt das Baby aus der Leichenhalle holen müssen. Dort werden sie den restlichen Tag verbringen, weil man dort stundenlang warten muss. Ich kann nicht anders als meine Hilfe anzubieten. Und so kommt es, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen. Meine Knie sind weich und ich bin mir wirklich nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Aber ich weiß, dass ich wahrscheinlich meine „weiße Haut“ Karte spielen kann und so das Verfahren beschleunigen kann. Also begleite ich die Gruppe von 6 Männern. Als wir dort ankommen, müssen wir ins Büro, dort sagt man uns, dass wir den betreuenden Arzt aufsuchen und einen Totenschein abholen müssen. Wir finden den Arzt auf seiner Station. Einer Station die ich sehr gut kenne. Oft war ich dort um kranke Kinder zu besuchen. Dort habe ich Kinder kämpfen sehen. Und ich habe gesehen, wie sie Kämpfe verloren haben. Wenn ein Kind stirbt und man ist dabei, man sieht es mit eigenen Augen, auch wenn man nicht mit dem Kind verwandt ist, dann stirbt ein kleiner Teil von einem selbst mit. Dann bricht das Herz, der Verstand versucht zu verstehen. Aber das kann keiner verstehen. Das ist gegen die Natur. Das ist einfach nicht richtig. Diese Kinder hatten selten eine Chance, von Geburt an schon zum Tode verurteilt. Und auch heute, wie so oft, frage ich mich, wenn es einen Gott gibt, wo ist er denn? Warum lässt er das zu? Ich habe noch keine Antwort gefunden. Wie so oft frage ich mich, was ist das denn für eine Welt? Warum ist es nur so verdammt unfair. Und warum gibt es so viele reiche Menschen und warum geben die nicht alle ein bisschen was von ihrem Reichtum ab? Wie kann es sein, dass heute noch so viele Kinder sterben müssen. Meist an Krankheiten, die man behandeln kann. Warum müssen so viele Kinder an Hunger sterben, während andere an reich gedeckten Tischen sitzen? Wenn man in einem der ärmsten Länder dieser Erde lebt, dann hört man niemals auf, sich diese Fragen zu stellen. 

Als wir den Totenschein haben, gehen wir zurück in die Leichenhalle, geben dort die Unterlagen ab und werden weitergeschickt in den Kühlraum. Kühlraum ist stark übertrieben, hier ist es nur wenig kühler als draußen und ein unangenehmer Geruch schlägt uns entgegen. So riecht der Tod. Manchmal habe ich auch Monate später noch diesen Geruch in der Nase. Ich werde wohl nie mehr vergessen, wie der Tod riecht. 

Ich betrete den kalten, kahlen Raum. Es gibt hier nichts ausser ein paar Metallbahren und Holzregale an der Wand. Und da liegen sie. Babys, kleine Kinder. Nackt. Einige schon etwas länger tot, bei ihnen hat ihre braune Haut graue, helle Flecken bekommen, die sich ausbreiten. Sie sehen wächsern aus. Wie Puppen. Manche sind erst seit kurzer Zeit tot und diese kleinen, hübschen Wesen sehen aus als würden sie schlafen. Ich möchte hinlaufen und sie zudecken, sie vor dem kalten Metalltisch bewahren, sie auf den Arm nehmen und wärmen. Ich möchte sie trösten und ihnen sagen, alles wird gut. Ich unterdrücke den Drang sie anzufassen. Ich muss mir selber einreden, dass sie nicht mehr am Leben sind. Sie schlafen nicht. Sie werden nicht mehr aufwachen. Sie werden niemals zur Schule gehen, niemals die ersten Schritte machen, niemals die erste große Liebe erleben. Niemals eine Familie gründen. Bereits kurze Zeit nach ihrer Geburt mussten sie schon wieder gehen. In dem Moment als ich zwischen all den Kinderleichen stehe, bin ich nicht bei mir. Es ist als sehe ich mich selbst da stehen. Mein Unterbewusstsein hat sämtliche Emotionen und Gefühle ausgeschalten. Anders kann man das nicht aushalten. Anders würde man zerbrechen. Aber ich weiß schon da, ich werde diese Kinder niemals wieder aus meinem Gedächtnis löschen können. Ein Teil von mir wird in diesem kahlen, kalten Raum bleiben und ihn nie mehr wieder verlassen. Ein Teil von mir, der an diesem Tag auch dort gestorben ist. 

Da ich den Anblick nicht mehr ertragen kann, drehe ich mich um zur Wand. Das ist ein großer Fehler. Auf den Holzbrettern an der Wand hinter mir, liegen die Babys, die direkt bei der Geburt gestorben sind. Oder nur wenige Tage gelebt haben. Totgeburten. Und dort liegt auch eine der Mütter. Keiner von ihnen hat etwas an oder ist zugedeckt. Ich sehe die Frau an und merke, sie ist selbst ein Kind. Bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Sie kann nicht älter als 16 sein. Sie hat ihre ursprüngliche Hautfarbe verloren und sieht irgendwie grau aus. Unter und über ihr liegen die kleinsten Babys die ich jemals gesehen habe. Manche kaum größer als meine Hand, ihre Köpfe so winzig, ihre kleinen Fingerchen. Dieser Anblick brennt sich in mein Hirn und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen an dem ich es nicht mehr aushalte. Ich gehe langsam und unter Schock rückwärts aus dem Zimmer und schaffe es kaum nach draussen. Vor der Tür atme ich tief durch, lasse mich auf den Boden vor dem Haus fallen und bleibe dort erstmal sitzen. Ich bin so traurig, dass ich nicht mal weinen kann. Wenn man richtig, richtig traurig ist, dann kann es sein, dass man nicht mal die Kraft für Tränen hat. Ich sitze dort mit leeren Augen, starre vor mich hin. Ich kann nicht denken, nicht fühlen. Ich fühle mich einfach nur leer. Kann keinen klaren Gedanken fassen, mein Gehirn ist nicht in der Lage, das zu verarbeiten, was ich da gesehen habe. Irgendwann kommen meine Freunde und helfen mir auf. Sie sagen mir, dass sie von dem Geld was ich ihnen gegeben habe, ein weißes Satintuch gekauft haben und der kleine Junge jetzt damit eingewickelt wird und wir ihn dann mitnehmen können. Ich schaffe es, meine letzte Kraft aufzubringen und gehe mit ihnen zurück in die Leichenhalle. Dort liegt er noch, der kleine Ali. Der kleine, schlafende, süße Ali. Wieder das Bedürfnis ihn auf den Arm zu nehmen, ihn zu schütteln und aufzuwecken. Vielleicht merkt sein Vater, dass auch mich das alles sehr mitnimmt, obwohl ich den Jungen nicht mal kannte. Während wir da stehen und zusehen wie er in das weiße Tuch gewickelt wird, nimmt sein Vater meine Hand und wir stehen nun da, Hand in Hand und weinen leise Tränen. Der Krankenpfleger übergibt den Jungen an seinen Vater und er legt ihn in seinen Sarg. Ein Pappkarton, der kaum größer ist als der Junge selbst. Dort liegt er vor mir. Ali in der Pappschachtel. Das ist alles so unwirklich. Andere Kinder packen ihre Puppen aus Pappschachteln aus. Hier liegt ein Kind vor mir. In einem Karton aus Pappe. Ich wende mein Gesicht ab um nicht anzufangen zu schluchzen. Nie mehr in meinem Leben werde ich diesen Anblicke vergessen. Ein Baby in einem Karton. Was zur Hölle ist mit dieser Welt nur los. 

Wir verlassen dieses schreckliche Zimmer und vor der Tür warten unsere Freunde. Wir schließen den Karton und stellen ihn vor uns auf einen Tisch. Alle ziehen ihre Schuhe aus und fangen an zu beten. So machen das die Muslime. Und auch ich bete mit. Die Schuhe habe ich auch ausgezogen, das Gebet kenne ich nicht. Aber ich bete mein eigenes Gebet. Ich wünsche dem kleinen Ali eine gute Reise. Ich wünsche ihm, dass dort wo er jetzt ist, es ihm so viel besser geht. 

Farewell kleiner Ali, dein Besuch war kurz, aber es ist sicher, dass du einen Platz in meinem Herzen hast und ich dich nie vergessen werde.

Bestrafung in SL


Sierra Leone ist eines der Länder dieser Erde, in dem die Menschen an Bestrafung in Form von Gewalt glauben. Manche mögen vielleicht sagen, ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem geschadet. Ich bin gegen jegliche Art von Gewalt, körperlich oder seelisch. Für mich kommt auch ein Klaps nicht in Frage.

Hier ist es üblich, die Kinder durch Schlagen zu erziehen, zu bestrafen. Dies findet in Form von ‚Flogging‘ statt. Mit einem Bambusstock wird den Kindern auf den Po geschlagen, auf die Hände, Arme, Beine, den Rücken. Im besten Fall ist es ein Klaps. Im schlechteren Fall werden sie ausgepeitscht. Da ich mit Kindern arbeite, sind Anblicke von völlig vernarbten Kinderkörpern für mich zur Routine geworden. Ein bisschen ist es Normalität geworden. Wenn der Arzt zu mir sagt: „kuck mal, das Kind hat hier und dort eine Narbe“. Dann ist das für mich kein Grund zum Ausflippen. Sind es ein oder zwei Narben und diese auch noch älter, dann gehe ich dem nicht weiter nach. Nicht weil es weniger schlimm ist, oder weil dieses Kind für mich nicht zählt. Es zählt auf jeden Fall und bekommt all meine Zuneigung und Liebe. Aber ich muss mich selbst schützen und kann wegen sowas nicht gleich durchdrehen, denn jedes Kind hat hier Narben. Wenn ich jeder Narbe nachgehe, dann mache ich den ganzen Tag nichts anderes mehr. 

Wenn ich das so lese, dann hört es sich irgendwie herzlos an. Als hätte ich kein Mitgefühl mehr. Das ist ganz und gar nicht so. Ich muss mich aber einerseits selbst schützen, denn ich sehe, höre und erlebe hier so viel Schreckliches, ich muss mich auf die schlimmsten Fälle konzentrieren. Muss meine Energie einteilen. Das ist leider so, würde ich das nicht tun, würde ich zerbrechen und müsste nach Hause fliegen. Und dann hätte niemand etwas davon. Nicht falsch verstehen, alle Kinder die ich in unserem Schutzhaus aufnehme, bekommen die gleichen Zuwendungen. Umarmungen. Unendlich viele. Positive Rückmeldungen. Aufmunterung und ich versuche alle gleichermaßen aufzubauen. Das klappt mal mehr und mal weniger. Und, ehrlich gesagt, man hat schon seine Lieblingskinder. Die immer ganz unterschiedlich sind. Aber manche Kinder berühren einen einfach mehr als andere. Aber jeder der mit Kindern arbeitet wird das wohl nachvollziehen können. Es gibt nun mal Kinder, die finden den direkten Weg in dein Herz. Ist ja unter Erwachsenen auch so, manche mag man mehr, manche weniger.

Worum ich mich aber mit aller Energie kümmere, sind die Kinder, die wirklich Schlimmes hinter sich haben. Und die erkennt man sofort. An ihrer Art und an den körperlichen Zeichen. Und wenn sie eine Weile bei uns sind und sich dann öffnen, dann kommen manchmal selbst den lokalen Sozialarbeitern die Tränen. 

Unser Junge Osman z.B.. Bei Onkel und Tante untergebracht, seine Eltern sind bereits tot. Ebola. Hier war es tatsächlich die Tante die ihn misshandelt hat. Zur Schule durfte er nie. Wurde wie ein Sklave zu Hause gehalten und war etwas nicht nach Tante’s Anspruch dann gab es Bestrafung. Er wurde an die Wand gekettet und ausgepeitscht. Immer wieder. Bis er eines Tages fliehen konnte und auf der Straße gelebt hat, bis wir ihn eines Nachts gefunden haben und er dann einige Monate bei uns wohnte. Wir konnten Teile der Familie ausfindig machen, dort lebt er jetzt. Er geht zur Schule und ist ein komplett anderes Kind. Als ich ihn kennenlernte, war alles was er immer zu mir sagte: „ I will kill myself.“ Tag für Tag. Er geht zu seinen Eltern. Er wird sich selbst umbringen. 

Als ich ihn das letzte Mal besucht habe, war ich so verwundert. Ein ganz anderes, glückliches Kind kam mir da entgegen.

Wenn man auf eine Körperstelle immer wieder schlägt bis sie richtig tief und blutig ist. Das über Wochen wiederholt, dann entstehen Narben die wie Geschwulste aussehen, die finde ich persönlich am schlimmsten.  

Viele Kinder und auch viele Erwachsene haben hier solche Narben. Das zeigt, dass die heutigen Eltern nur weitergeben, was sie gelernt haben. Vielleicht kann irgendwann die Aufklärungsarbeit und die Bildung dazu beitragen, dass das aufhört. 

Immer wieder wird auf eine Stelle mit einem Stock geschlagen, bis die Haut aufplatzt. Und das nicht nur auf dem Rücken. Auf Armen, Beinen, Fusssohlen. 

Sheku ist der Sohn des Managers des Resort in dem wir manchmal unser Wochenende verbringen. Es ist ein lokales Resort, d.h. Eimer-Dusche, keine Klima, lokales Essen. Wir mögen diese tollen teuren Resorts nicht so wirklich, in denen es wimmelt von weißen Entwicklungshelfern die sich selber feiern. Wir versuchen soweit es geht die Locals zu unterstützen. Und in einer Hütte direkt am Strand zu übernachten, mit Lagerfeuer, das ist so viel schöner!

Leider mussten wir mit ansehen wie Sheku’s Vater ihn eines Abends bestraft hat. Er musste sich auf den Boden knien und einen Baumstamm mit einer Hand über seinem Kopf halten. Immer wenn der Baumstamm auch nur einen Milimeter runter kam, gab es die Peitsche. Zuerst haben wir es nur gehört, den Peitschenhieb und sein Weinen. Als wir dann gesehen haben was da vor sich geht, mussten wir eingreifen. Ich fahre nun regelmäßig hin und kontrolliere den Körper von Sheku.

Tja, also, wenn man immer wieder mit so etwas konfrontiert wird, dann muss man aussortieren. Dann kann man nicht für jede kleine Narbe Tränen vergiessen. Dann ist das Normalität. Wenn man das nicht tut, dann geht man daran kaputt. 

Dann sind da noch meine Mädchen. Mädchen sind auf der Straße schwierig zu finden. Sie flüchten, verstecken sich. Sie haben Angst vor der Polizei. Sie halten sich mit Prostitution über Wasser und die ist hier verboten. Also verstecken sie sich gut. Aber wir arbeiten mit Familienamt und Polizei zusammen. Haben Freunde und Helfer überall in der Stadt. Und so werden Mädchen oft zu uns gebracht. 

Die letzte Woche war hart.

Sehr hart. Ich kann mittlerweile echt sehr viel aushalten. Meine Belastungsgrenze ist hoch. Aber diese Woche. Herrje, ich bin an meine Grenze gekommen. So sehr, dass ich an einem Tag von der Arbeit nach Hause gelaufen bin. Das ist ungefähr Forbach - Schwarzenbach Talsperre. Nur steiler und furchtbar heiss und schwül. Aber ich konnte nicht anders. Ich war so wütend und bin einfach los gelaufen. Die Wut rauslaufen. Hat tatsächlich geholfen. 

Diese Woche war voller Vergewaltigung. Da haben wir zuerst Hawanatu, 13 Jahre alt. Die Tochter meines Putzmannes. Er ist klein und alt. Aber unermüdlich am Putzen und er liebt seinen Job. Und er hat es gut bei uns. Wird gut bezahlt, bekommt jeden Tag zu essen. Und ich ermuntere ihn immer wieder mal eine Pause zu machen und sich hinzusetzen. Ich mag ihn sehr. Wir finden immer wieder Zeit zu reden. Er hat mir auch schon seine Frau und seine Kinder vorgestellt. Letzte Woche kam er in mein Büro um zu reden. Seine Tochter wurde vergewaltigt. Schon ein paar Wochen her, aber es kam jetzt erst raus, weil sie denkt, sie ist schwanger. Er hat sein Herz ausgeschüttet und ich habe mit ihm vereinbart, dass er am nächsten Tag mit Hawa zur Arbeit kommt und wir zusammen ins Krankenhaus gehen um sie untersuchen zu lassen. Zum Glück hat sie keine Krankheiten, aber schwanger ist sie tatsächlich. Den Täter kennen wir. Und Sheku ist zur Polizei gegangen und hat Anzeige erstattet. Die Familie des Täters hat nach seiner Verhaftung Sheku angebettelt die Anzeige zurück zu ziehen. Sie haben angeboten, die Schulgebühren für Hawanatu zu bezahlen. In Deutschland undenkbar, dass sich jemand darauf einlässt. Aber hier ist das viel viel Geld. Und eine garantierte Schulausbildung für das Mädchen. Wir haben lange lange geredet. Ich habe ihm gesagt, dass egal wie die Familie sich entscheidet, ich stehe hinter ihm und unterstütze ihn. Aber, dass ich denke, dass dieser Typ bestraft werden muss. Weil er es wieder tun wird. Und auch Hawa ist wichtig, dass sie sieht, er kommt nicht so davon. Nachdem Sheku und seine Frau tagelang diskutiert haben, hat er mir gestern erzählt, der Täter bleibt in Haft. Er nimmt kein Geld, er will dass derjenige der seiner Tochter das angetan hat, bestraft wird.

Ich war so stolz auf ihn. Die meisten Familien hier, nehmen solche Angebote an und immer wieder werden Vergewaltiger so wieder freigelassen. Ich bin froh, dass er sich dagegen entschieden hat. Das war eine schwierige Entscheidung, aber die Richtige.

Dann hatten wir die nächste Hawanatu. Ein Mädchen aus unserem Haus, 12 Jahre alt. Sie wurde in ihrem Dorf mehrfach vergewaltigt, von mehreren Männern gleichzeitig. Dann ist sie davongelaufen und in Freetown ist ihr das dann wieder passiert. Aber diesmal wusste sie wer die Täter sind. Ich bin mit ihr zusammen zu einem Beratungscentrum für missbrauchte Mädchen und Frauen. Dort können sie reden, es gibt Sozialarbeiter und auch medizinische Versorgung. Wir saßen den halben Tag im Wartezimmer, ein Raum voller missbrauchter Mädchen. Kaum zu ertragen. Dann sind wir weiter zum HIV Test. Und hier saßen wir im nächsten Raum voller Kinder. Alle zum Testen. Und es wird im gleichen Raum getestet in dem man wartet. Das Ergebnis erhält man dann auch direkt dort. Privatsphäre? Gibt es nicht. All diese Kinder. Wie schwer es mir in diesen Situationen fällt, nicht zu weinen könnt ihr euch vielleicht vorstellen. Die Verantwortliche medizinische Angestellte die die Medikament für die Aidskranken austeilt und sie checkt heisst Kadijah. Da ich mit einem meiner Mädchen alle 2 Wochen zum Check da hin muss, kennen wir uns gut. Kadijah ist nicht viel grösser als ich, aber sie wiegt weit über 100 KG. Sie ist so eine richtige afrikanische Mama. Alles ist gross und breit an ihr. Sie sitzt immer wie eine Bienenkönigin mitten im Raum und kommandiert ihre Bienchen herum.

Als sie an diesem Tag gesehen hat, hat sie mich zu sich gerufen und bevor ich wusste was passiert, hat sie mich an sich gezogen und mich an sich gedrückt. An Kadijah gedrückt zu werden bedeutet, völlig in ihrem Körper und zwischen ihren riesigen Brüsten zu verschwinden. Als sie mich wieder losgelassen hat, meinte sie nur:“Ich hatte das Gefühl, du brauchst das heute.“ Oh mein Gott. Was bist du nur für eine tolle Frau! Nicht nur, dass du all deine Patienten mit ihren Geschichten ganz genau kennst, aus dem Kopf ihre Medikation aufsagen kannst (und es sind viele viele Patienten), du hast auch so ein riesengroßes Herz und gehst so toll mit den Kindern um. Sie ist herrisch, kommandiert, aber sie ist mit Sicherheit einer der Menschen mit dem grössten Herzen den ich kenne.

Und sie hatte Recht, ihre Umarmung war exakt was ich gebraucht habe.

Mit dabei an diesem Tag war auch immer Mohammed. 10 Jahre alt. Er wurde von 2 Jungs festgehalten und der Dritte hat ihn vergewaltigt. Mohammed ist schon einige Wochen bei uns, aber er war erst jetzt so weit uns davon zu erzählen. Auch mit Mohammed wurde gesprochen und er wurde untersucht.

Das vierte Kind mussten wir im Krankenhaus versorgen. Sie ist 10 Jahre alt und wurde an Armen und Beinen gefesselt und 3 x vergewaltigt. Und zwar so heftig, dass ihre Hüftknochen an beiden Seiten gebrochen sind. Die Hüftknochen sind mit die kräftigsten Knochen im Körper, diese zu brechen, da muss man schon richtige Kraft aufwenden. Die lokale Ärztin hat nach der vaginalen Untersuchung den Raum verlassen und gesagt, ruft mich nicht mehr, ich kann das echt nicht mehr. Und die hat schon einiges gesehen.

Das Mädchen wurde heute zum dritten Mal operiert. Bei der ersten OP ist der Vater von einem Stadtende zum Anderen gelaufen um Blut von einer Blutbank zu holen. Das Krankenhaus hatte keines mehr. Das Mädchen lag auf dem OP Tisch und ist fast verblutet. Der Vater ist um das Leben seiner Tochter gelaufen und er hat es geschafft und kam rechtzeitig zurück. Sie ist momentan noch am Leben, wir hoffen, das bleibt so.

Das war meine Woche. Eine Vergewaltigung nach der anderen. Zwischendurch dachte ich wirklich, jetzt leckt mich echt alle am Arsch, richtet euch gegenseitig zu Grunde, ich mach das nicht mehr mit. Ich gehe. Ich wollte wirklich am Liebsten nach Hause.

Doch dann sind ja auch noch meine Kids. Und ich kann sie einfach nicht im Stich lassen. Noch ist meine Zeit des Abschieds nicht gekommen. Noch habe ich hier eine Aufgabe zu erfüllen. Es geht mir mittlerweile besser. Ich habe mich wieder gefangen. Am Wochenende nutze ich jede Minute um Kraft zu tanken. Die werde ich auch nächste Woche wieder brauchen. 

Dieses Land macht dich fertig. Wie ein Virus, er frisst sich unter deiner Haut tief in dein Innerstes. Dieses Land ist nicht offensichtlich. Dieses Land geht unter die Haut. Ganz tief. 

Aber manche Menschen hier, die gehen auch unter die Haut. Du lernst sie kennen, freundest dich an. Sie berühren dich. Die Kinder. Sie berühren dich. Und ich kann sie nicht im Stich lassen. Die Kinder gehen mir unter die Haut. Nicht wie ein Virus. Sie suchen ihren Weg zu meinem Herzen und dort bleiben sie. Und deshalb bin ich hier. Und deshalb mache ich weiter. Den Virus kann ich immer wieder zurückdrängen.

Die Kinder, die dürfen bleiben.

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Unter die Haut


(links eine Beschneiderin erklärt)


Seit genau 174 Tagen bin ich nun in Freetown, Sierra Leone. Was diese Tage in mir bewirkt haben, kaum in Worte zu fassen. Ich werde es trotzdem versuchen. Ich glaube fast, mein heutiger Bericht ist ein „von der Seele schreiben“. Fast wie mit Freunden oder Familie zu reden. Ein Brief an die Heimat. Es ist schwierig, jemandem, der noch nie hier war und das Alles nicht täglich erlebt, zu berichten was hier vor sich geht, das ist wirklich schwierig. Und ich glaube ganz nachvollziehen können das nur diejenigen die hier gelebt haben.

Am Anfang, da man ja weiß wo man hinfliegt und dass SL eines der ärmsten Länder der Welt ist, da kommt man an und wundert sich. Wie gut hier doch Alles funktioniert. Viel schlimmer hatte ich es erwartet. Aber es gibt normale Häuser, normale Straßen, Shops in denen es manchmal sogar deutsche Produkte gibt. Ja, tatsächlich hat sich nach Krieg und Ebola schon ein bisschen was verändert.

Und dann taucht man ein, Stück für Stück. Das Land, die Menschen, sie finden ihren Weg unter meine Haut. Wie ein Virus, ganz klein fängt es an. Dann frisst es sich fest und geht tiefer und tiefer. Bis man denkt, man hält das einfach nicht mehr aus. Aber selbst dann, es geht weiter und weiter. Was bleibt mir auch übrig? Abbrechen? Nach Hause fliegen? Ja, im August für 3 Wochen. Dann geht es zurück. Ich bin noch nicht so weit aufzugeben. Aber wäre es tatsächlich ein Aufgeben? Ich denke, eher nicht. Ist es doch mehr, als die meisten anderen Menschen bereit sind zu geben. Ich gebe viel. Kurz bevor ich mich aber ganz gebe, ziehe ich die Bremse. Nehme Abstand. Ziehe meine Mauer hoch und lasse nichts und niemanden mehr an mich heran.

Es sind die Geschichten der Menschen, der Kinder. Es ist der Umgang untereinander. Irgendwer hat vor kurzem mal zu mir gesagt: „Ich habe das Gefühl, der Krieg ist noch nicht beendet. Nicht mehr so offensichtlich, aber die Menschen hier, bekriegen sich nach wie vor.“ Und da ist wirklich was Wahres dran. 

Ich fange einfach mal an. Erzähle euch womit ich hier konfrontiert bin. Die meisten Menschen hier sind so arm, sie kaufen ihren Reis nicht in einer Packung sondern Tassen-weise. Eine Tasse Reis kostet 20 Cent. Wasserflaschen sind ebenfalls nicht im Budget, man kauft kleine Plastiktütchen gefüllt mit Trinkwasser. Die kosten 2 Cent.

Große Karren werden von Menschen gezogen, Esel oder Kühe gibt es nicht. Waren werden in Schubkarren von A nach B transportiert. So schwer beladen, ich wunder mich immer wieder wie das überhaupt möglich ist. 

Die Armut ist groß, sehr groß. Aber auch die sieht man nicht gleich. Wenn man eine Weile hier ist, wird einem erst bewusst, wie wertvoll 10.000 Leones für die Menschen sind. Bei uns ist das ein Euro.

Wenn du einem Bettler 10.000 gibst, kann er davon mindestens 3 Tage leben.

Die Menschen im Landesinneren sind noch ärmer. Sie wohnen in Buschdörfern, in Lehmhütten, sie leben von dem was sie anbauen können. Manches davon wird verkauft, auf einem Markt der einen stundenlangen Fussmarsch bedeutet. Kinder holen Wasser in großen Kanistern von Bächen, Flüssen. Hier fangen die Kinder an zu arbeiten, sobald sie laufen können. Dann kommt der Kanister gefüllt mit Wasser oder große Baumstämme auf den Kopf und das transportieren sie teilweise einige Stunden. An den Anblick habe ich mich gewöhnt und das tut schon lange nicht mehr weh. Es ist einfach so. Kinder müssen ihren Teil zum Überleben beitragen. Und das von klein an. Wenn sie etwas größer sind, werden sie früh morgens aus dem Haus geschickt und müssen auf dem Markt Waren verkaufen. Bis spät am Abend. Von unserer Vorstellung einer Kindheit kann man sich hier ganz schnell verabschieden.

Das Land ist arm. Die Menschen sind arm. Ich habe mich daran gewöhnt und kann ganz normal damit umgehen. Es ist für mich Routine, Realiltät, Normalität geworden. Erschreckend oder? 


Sierra Leone ist eines der Länder dieser Erde, in denen Mädchen noch beschnitten werden. Ca. 98% aller Mädchen und Frauen sind beschnitten. Vor einigen Wochen hat mich ein Freund eingeladen, ihn und seine Frau in seinem Center zu besuchen.

Die beiden kämpfen seit vielen vielen Jahren gegen die Beschneidung. Sie haben es geschafft ein Center zu errichten, in dem Mädchen unterkommen können, die vor der Beschneidung fliehen, die vergewaltigt wurden, missbraucht. Die beiden sind in Sierra Leone geboren. Das bedeutet, mit ihrer Arbeit wenden sie sich gegen ihre eigene Tradition, Kultur, Brauchtum. Das hat ihnen schon Morddrohungen eingebracht, Teile der Freunde und Familie haben sich abgewendet. Sie kämpfen trotzdem weiter. 

Ich bin mit meinem Team ins Center gefahren und wir haben das Wochenende dort verbracht. Nach diesem Wochenende bin ich gespalten wieder nach Hause gefahren. Ich habe geweint, gelacht, war verwirrt, geschockt. Aber am meisten war ich tief beeindruckt. 

Mein Freund Kolleh und seine Frau Christiana kämpfen den Kampf gegen Beschneidung auf eine Art und Weise die mich umgehauen hat. Sie wissen, dass sie mit Gewalt und Druck nichts erreichen. Beschneiderinnen sind häufig die einzigen Geldverdiener in der Familie. Und sie verdienen für hiesige Verhältnisse sehr viel Geld. 

Zu sagen, das ist Alles falsch und die Beschneiderinnen sind Monster und man muss mit Gewalt verhindern, oder verbieten, das wäre genauso falsch. Das geht nicht. Das würde niemals funktionieren. Kolleh und Christiana machen die Beschneiderinnen zu Freunden. Sie respektieren sie. Weil sie in ihren Communities ein hohes Ansehen geniessen. Sie ziehen sie ganz langsam aber wirkungsvoll auf ihre Seite. Sie veranstalten immer wieder Info-Tage, klären auf, versuchen sie im Inneren zu erreichen, zu bewirken, dass sie selbst einsehen, dass was sie tun, nicht richtig ist.

Mein Wochenende dort war mit Sicherheit eines der beeindruckendsten Erlebnisse das ich je hatte.

Wir haben uns mit Mädchen im Alter von 10 Jahren bis zu 16/17 Jahren getroffen, teilweise beschnitten, teilweise haben sie es vor sich, teilweise schaffen sie es bis jetzt noch sich zu wehren. Und dann waren da noch die Beschneiderinnen. Teilweise noch in der Ausbildung, teilweise schon viele Jahre im Geschäft.

Die Zoe’s, wie die Beschneiderinnen hier genannt werden, werden ausgesucht, entweder ist es Familientradition oder sie waren in jungen als Mädchen krank. Psychisch, körperlich, spielt keine Rolle. Die traditionellen Heiler schicken die Mädchen dann zur Heilung in ein weit entferntes ‚Camp‘ wo sie ‚gesund‘ werden. In ihrem Glauben, wohnt ein Dämon in den Mädchen, der dafür sorgt, dass sie entweder geistig instabil, verrückt sind oder gar körperlich krank. Wenn sie aber zur Zoe werden, gibt es Heilung und sie werden gesund. In den Camps werden sie ausgebildet zur Beschneiderin. Wenn sie dann nach 2-3 Jahren zurückkommen und geheilt sind dürfen sie nach einer offiziellen Feier dann als Beschneiderin arbeiten.

Wir saßen dann alle nebeneinander im Kreis, neben mir direkt die Beschneiderinnen, mir gegenüber die Mädchen. Am Anfang lief es stockend, wir waren alle eingeladen um miteinander zur reden, uns auszutauschen, Fragen zu stellen, Antworten zu bekommen. Die Diskussion kam nicht in Gange. Zu gehemmt waren Alle. Unsicher. Welche Fragen darf man stellen? Wie weit können wir gehen? Wie bereit sind all die Mädchen und Frauen sich vor uns zu öffnen? Kolleh hat dann einfach die Beschneiderinnen gebeten uns von sich zu erzählen. Und das haben sie getan. Wir erfuhren wie sie aufgewachsen sind, wie sie zur Zoe wurden, wie sie vorgehen und wieviele Beschneidungen sie schon durchgeführt haben. Wir waren immer noch im Schockzustand, aber langsam hat einer nach dem anderen Fragen gestellt. Den Frauen. Den Mädchen. Ich gehe hier jetzt nicht ins Detail, aber es war schlimm. Zu hören, wie so etwas vor sich geht, was die Frauen dabei fühlen, dass sie sich betrinken müssen, um es durchziehen zu können. Am Ende hatte ich den Eindruck, die Frauen sind alle stark traumatisiert und hätten sie eine Wahl, sie würden einen anderen Beruf auswählen. Auch würde keine dieser Frauen ihre eigene Tochter beschneiden, da sie Angst haben, die Tochter würde ihnen das nie verzeihen.

Dann kamen die Mädchen. Mit ihren Geschichten. Und an der Stelle musste ich 5 Minuten vor die Tür. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten und wollte nicht vor ihnen weinen. Ein Mädchen hat erzählt, dass sie fast verblutet ist. Dass sie 3 Tage an ihr herumgeschnitten haben, immer wieder, ohne Betäubung, mit 4 anderen Frauen die auf ihr saßen damit sie sich nicht wehren konnte. Sie hat knapp überlebt. 

Die Mädchen haben mich so sehr beeindruckt. Sie waren so stark. Und sie haben mit den Beschneiderinnen respektvoll diskutiert. Sind nicht böse oder aggressiv gewesen. Sie hatten unschlagbare Argumente, die keine Zoe widerlegen konnte. Am Ende haben wir alle geredet, diskutiert, gelacht, viele Stunden lang. Aber zu keiner Zeit war die Stimmung schlecht oder aggressiv. Ich konnte nicht fassen wie hier Täter und Opfer so respektvoll miteinander umgehen. 

Dieses Wochenende hat mich so sehr beeindruckt. Hat mich so sehr zum nachdenken gebracht. Und auch wenn ich weibliche Beschneidung nach wie vor ablehne, ich verurteile nicht die Zoe’s. Ich kann es nicht. Es sind liebenswerte Frauen, die wissen, dass was sie tun nicht richtig ist. Sie sind selbst Opfer und traumatisiert. Aber sie haben nun mal keine Wahl. 

Und wenn ich hier eins immer wieder lerne. Wir, aus den reichen Industrieländern, wir haben fast immer eine Wahl. Wir werden niemals zu solchen Dingen gezwungen, weil die Umstände uns keine andere Wahl lassen. Diese Frauen können nicht wählen. In keinster Weise heisse ich gut was da passiert. In keinster Weise will ich die Beschneiderinnen in Schutz nehmen. Aber ich bin mir sicher, nur durch Verständnis und aufzeigen anderer Wege wird einiges Tages kein Mädchen mehr beschnitten. Der Kampf gegen jahrhundertlanger Tradition und Glaube kann nur mit Verständnis, Mitgefühl, in Frieden und ohne Zwang geführt und gewonnen werden. Alles Andere wird nicht viel bewirken.

Ich bewundere diese starken Mädchen so sehr. Sie sind so clever und so erwachsen, so respektvoll und doch vertreten sie ihre Meinung. Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben je Menschen getroffen habe, die mich so beeindruckt haben.

Sie zeigen uns Werkzeuge mit denen die Beschneidung vollzogen wird. Die beiden dicken Spitzen werden eingeführt, um die Körperteile stabil zu halten, die abgeschnitten werden. Die grüne Paste wird danach auf die Vagina geschmiert um zu heilen, oft machen diese Kräutermischungen alles noch schlimmer. Das Messer wird heute noch selten verwendet, man ist zu Rasierklingen übergegangen. Diese sind oft stumpf und eine Klinge wird für mehrere Mädchen verwendet.

Die Zoe’s erhalten nach der Zeremonie in der sie ernannt werden ein rotes Tuch. Nur Zoe’s dürfen diese Tücher tragen und besitzen.

Die Mädchen, noch ruhig und hören zu.

Bald ändert sich das und sie schlagen die Zoe’s mit den besseren Argumenten. Alles immer mit Respekt und ruhig und sachlich. Ein Mädchen hatte während der Diskussion meistens das Wort. Sie hat so klar und deutlich ihre Meinung vertreten. Sie ist bereits beschnitten, möchte aber kämpfen um anderen Mädchen das zu ersparen. Ihre Argumente waren so gut, die Zoe’s konnten kaum was entgegenbringen. Dieses Mädel ist unglaublich stark, stolz und ist eine Königin im Diskutieren.

Dann erzählt ein Mädel ihre Geschichte, das 3 Tage lang beschnitten wurde, immer wieder. Ohne Betäubung. Sie hat soviel Blut verloren, dass sie fast gestorben wäre. Aber auch sie konnte sachlich und rational diskutieren. Sie ist nicht verbittert oder böse.

Nach unserem Meeting kam sie zu mir, hat mich in den Arm genommen und mir gesagt: „Danke, dass ihr gekommen seid und uns zugehört habt.“

Da kamen mir wieder die Tränen. Wie stark sind diese jungen Frauen. Unglaublich. Nie mehr werde ich diese Zwei vergessen, ihre Augen, ihre Stimme, ihre Art, ihre Stärke, ihren Mut. Denn der Kampf gegen diese lange Tradition ist nicht ungefährlich. Oft werden die Mädels von den Familien und Freunden verstoßen. Sie werden bedroht. Aber sie geben nicht auf und kämpfen weiter. Unfassbar mutige junge Frauen.

Mittlerweile habe ich mich wieder gefangen, aber die Tage nach diesem Wochenende habe ich ständig nur an diese Frauen gedacht. Mir war teilweise richtig schlecht. Ich habe davon geträumt, konnte kaum essen, immer wieder weinen. 

Leben nach dem Krieg


(links: Freetowns Zentrum)


Wie ist es in einem Land zu leben, in dem der Krieg gerade mal 17 Jahre her ist?

Heute berichte ich euch darüber, aber zuerst ein paar Zeilen Basis-Wissen zum Bürgerkrieg in Sierra Leone (Quelle: bpb)


Der Bürgerkrieg in Sierra Leone begann 1991 und endete 2002. Dieser Krieg war einer der gewalttätigsten auf dem afrikanischen Kontinent. Zehn Jahre lang kämpften die Rebellen der RUF (Revolutionary United Front) mit ihren Verbündeten gegen regierungstreue Milizen und zeitweise auch gegen die Armee.

 Anfänglich gab es wohl gute Gründe, gegen die Regierung vorzugehen (wenn auch nicht zwangsweise mit Krieg). Sierra Leone war von Korruption durchsetzt und wirtschaftlich von internationalen Unternehmen dominiert, die sich im Zusammenspiel mit der Regierung an den heimischen Rohstoffen bereicherten. Der Bevölkerung fehlte es dagegen am Nötigsten, u.a. am Geld für die Schulgebühren und die Gesundheitsversorgung. Hauptursache des Krieges waren jedoch die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Schwierigkeiten junger Männer in den ländlichen Gebieten, Farmland zu bekommen. Die Landverteilung wird bis heute von oft autoritär regierenden traditionellen Führern (Chiefs) kontrolliert. Hinzu kam der schwierige Zugang zu Bildung und der beschränkte gesellschaftliche Einfluss von jungen Leuten allgemein. 

Im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen hat sich die RUF immer mehr von ihren ursprünglichen Zielen abgewendet. Die Sicherung und Ausbeutung des von ihr kontrollierten Ostens des Landes rückten in den Vordergrund. Mit Unterstützung der Regierung des benachbarten Liberia finanzierte sie sich hauptsächlich über den illegalen Handel mit Rohdiamanten. Als die RUF Mitte der 1990er Jahre in die politische und militärische Defensive geriet, agierte sie zunehmend brutaler. Weltweit bekannt wurde die Praxis, Zivilisten Arme und Hände abzuhacken. Ursprünglich sollten die Menschen auf diese Weise davon abgeschreckt werden, an den für Februar 1996 anberaumten Wahlen teilzunehmen und für Tejan Kabbah, den Kandidaten der Sierra Leone People’s Party (SLPP), zu stimmen. Kabbah wurde trotz der brutalen Einschüchterung gewählt. Ein Jahr später musste er jedoch wegen eines Militärputsches fliehen. 

In dieser Phase des Konfliktes hatten sich das reguläre Militär und die RUF in dem Bestreben zusammengetan, ihre Macht über das Land zu erhalten. In der Folge wurden tausende Zivilisten verstümmelt und getötet. Auf der anderen Seite kämpfte die Civil Defence Force (CDF) – Bürgermilizen, die sich landesweit organisierten, um die Regierung von Kabbah ins Amt zurückzubringen. Unterstützung erhielten sie von Truppen der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikas (ECOWAS). Die Milizen gingen mit vergleichbarer Härte und Brutalität wie die RUF vor und machten sich ebenfalls massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig. Kabbah und seine Regierung konnten nach neun Monaten in die Hauptstadt Freetown zurückkehren. Als Reaktion auf ihre Entmachtung besetzten Einheiten der RUF und ehemalige Militärs am 6. Januar 1999 mehrere Stadtteile und lieferten sich heftige Gefechte mit der westafrikanischen Friedenstruppe. Die Kämpfe forderten rd. 5.000 Todesopfer. 

Der Krieg hat fast nur Verlierer hinterlassen – 90% der Kriegsopfer waren Zivilisten, viele der Kindersoldaten haben nicht freiwillig gekämpft, ungezählte Mädchen und Frauen wurden Opfer sexualisierter Gewalt, 60% der Bevölkerung flüchten innerhalb des Landes oder in die Nachbarstaaten. Die wirtschaftliche und staatliche Infrastruktur wurde weitgehend zerstört, es gab nur noch eine unzureichende Strom- und Wasserversorgung, Schulen und Krankenhäuser konnten bestenfalls eine Notversorgung sicherstellen. 

Im Juli 1999 unterzeichneten die Rebellen und die Regierung in Lomé (Togo) ein Friedensabkommen. Die Gewalt ging dennoch weiter, auch die UN-Friedensmission (UNAMSIL) konnte sie zunächst nicht eindämmen. Im Jahr 2000 wurde die UNAMSIL-Truppe mit 17.500 Soldaten zu der zu diesem Zeitpunkt größten UN-Mission aufgestockt. Das offizielle Ende des Bürgerkrieges wurde am 18. Januar 2002 verkündet. 


Das war die Theorie, die man in Geschichtsbüchern nachlesen kann, im Internet oder in Reiseführern.

Aber wie ist es in der Praxis? Wie fühlt es sich an. Wenn man mal von den Fakten absieht, wie ist es emotional, das Empfinden, das Erleben.


Hier geht es jetzt um mein rein persönliches Gefühl und Empfinden. Für mich gibt es zwei Seiten, auf der einen Seite, ganz sachlich betrachtet, finde ich es super spannend in einem Land zu leben, in dem die Geschichte noch so real ist. Das gibt mir die Möglichkeit mit Menschen zu sprechen. Erinnerungen und Erlebnisse nicht aus Büchern sondern in Form von erzählten Geschichten zu erfahren.

Das ist meine wissensbegierige Seite. Die andere Seite, tja, die ist manchmal zu schrecklich und kaum zu ertragen.

Bis heute weiß niemand warum der Krieg so aussergewöhnlich brutal war. Es gab keinen Grund dafür. Es ist völlig eskaliert und keiner kann das heute mehr nachvollziehen. Das hatte mit einem Krieg um ein Ziel zu erreichen kaum mehr was zu tun. Es war ein Abschlachten von Menschen, hauptsächlich Zivilisten, ohne Ziel und ohne Sinn.

Es ist eine Sache, wenn man Schreckensgeschichten in Büchern liest. Eine Andere, wenn man die Menschen, die diese Geschichten erlebt haben, vor einem sitzen und sie erzählen. Gnadenlos offen. Wenn man diese Menschen lieb gewonnen hat, jeden Tag mit ihnen verbringt und sich immer wieder einfach nur wundert, wie man mit diesem Hintergrund ein so normaler Mensch bleiben oder werden konnte.

So gut wie jeder hat hier seine eigene Kriegsgeschichte, Babys und Kinder ausgenommen. Aber alle Sierra Leoneans ab Mitte 20 haben den Krieg bewusst erlebt. Und je länger ich hier bin, umso mehr öffnen meine Freunde ihre Herzen und erzählen mir ihre ganz persönlichen Geschichten. Mittlerweile sind es unzählige geworden und ich möchte euch ein paar davon weitergeben.


Da wäre z.B. Abbas, einer unserer Fahrer. Abbas kennt sein genaues Alter nicht, ist aber schätzungsweise Ende 20. Er kommt aus einem Dorf im Dschungel. Von diesen Dörfern gibt es unzählige. Die Häuser sind aus Lehm und mit Stroh bedeckt, Wasser holt man aus einem Fluss in der Nähe, Strom gibt es nicht. Pures Afrika eben. Auch heute noch gibt es viele solcher Dörfer.

Bei meinem letzten Trip ins Landesinnere hat Abbas mir sein Dorf gezeigt. Und mir seinen Bruder und eine Tante vorgestellt. Die drei sind die einzigen, die von einer großen Familie übrig geblieben sind. 

Mit Abbas habe ich schon viele Stunden verbracht, wartend am Fährhafen auf ein neues Teammitglied aus Deutschland. 

Eines Tages hat er von ganze alleine angefangen zu erzählen. Von seiner Familie, seinen Eltern, seinen Geschwistern, seinem Dorf. Von dem Ort an dem er aufgewachsen ist, wo seine Familie arm, aber glücklich gelebt hat. Bis zu dem Tag, an dem die Rebellen ins Dorf kamen. Sein Bruder war zu der Zeit nicht zuhause, aber all die anderen aus der Familie. Die Menschen wurden auf dem Dorfplatz zusammen getrieben, alle Häuser niedergebrannt, das Dorf in Schutt und Asche gelegt. Danach haben die Rebellen einem Dorfbewohner nach dem Anderen den Kopf mit einer Machete abgeschlagen.

Die Tante konnte irgendwie flüchten, Abbas hingegen stand vor den Rebellen und wartete darauf, dass er getötet wird. Er war damals ein Kind. Dem Tod entging er nur, weil er dem Rebellenführer gefallen hat. Er fand ihn süss und hat ihn mit zu sich nach Hause genommen. Ich gehe jetzt nicht ins Detail für was er ihn benutzt hat. Abbas ist jetzt ungefähr Anfang 30, keiner weiß das so genau. Abbas hat einen gut bezahlten Job in einem tollen Team, bei einer tollen NGO die ihn gut behandelt. Abbas ist fröhlich. Immer gut gelaunt. Abbas kann weder lesen noch schreiben. Abbas hat immer ein Lachen im Gesicht. Was aber niemals lacht, sind seine Augen. Die wirken wie leer, wie tot.

Wenn er von seinem Schicksal erzählt, dann redet er wie wenn er eine Geschichte von einer anderen Person erzählt. Wahrscheinlich hat er sich abgegrenzt, sein Unterbewusstsein verbietet ihm, Emotionen zu der Geschichte hinzuzufügen. Abbas ist ein richtig netter Kerl, und ich wundere mich täglich wie er so normal sein kann. Hätte ich miterlebt wie meine ganze Familie geköpft wird, ich hab keine Ahnung wie ich damit leben sollte.


Dann wäre da Rachael. Rachael ist Sozialarbeiterin bei Cap Anamur. Sie kümmert sich in einer Art um Strassenkinder die einzigartig ist. Mit soviel Liebe für jedes einzelne Kind. Mögen die Kids auch noch so schwierig, gewalttätig oder kompliziert sein. Rachael schafft es doch immer, zu ihnen durchzudringen.

Rachael ist alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern. Zum Weltfrauentag haben wir beide ein Gespräch geführt und das wurde dann auf der Homepage von Cap Anamur veröffentlicht, falls es euch interessiert:

https://www.cap-anamur.org/weltfrauentag-2019/


Rachael ist eine starke Frau. Eine Powerfrau. Sie liebt ihren Job und sie liebt Kinder. Manchmal verflucht sie es, dass sie zwei Mädchen hat. Für Mädchen ist es in diesem Land nicht ganz so einfach und oft gefährlich. Mit Söhnen würde sie ruhiger schlafen.

Rachael hat eine unglaublich Art mit Kinder zu reden. Liebevoll, aber streng. Rachael lacht mit den Kinder und manchmal weint sie auch mit ihnen. Dann wenn die Geschichten besonders schlimm sind.

Rachael hat im Bürgerkrieg zwei Brüder verloren. Beide wurden von Rebellen vor ihren Augen geköpft. 

Rachael konnte mit ihren Eltern und einer Schwester in den Dschungel flüchten. Dort lebten sie versteckt im Gebüsch, über ein Jahr lang. Mit dem was sie am Leib trugen. Zwischen Skorpionen und giftigen Schlangen.

Ernährten sich von dem was im Dschungel so wächst, Wasser aus Quellen oder dem Fluss.

Rachael hat es bis heute nicht vergessen. Den Tag als die Rebellen in Freetown eingefallen sind.

Als sie ihr Zuhause niedergebrannt haben. Weil ihr Vater Lehrer war und einer der Rebellen mal sein Schüler. Aus Rache hat er die Söhne umgebracht und alles niedergebrannt. Das hatte nichts mit dem ursprünglichen Zweck des Krieges zu tun. Das war die Chance Rache zu üben.

Vielleicht ist deswegen auch der ganze Krieg eskaliert. Keiner weiß es.


Die Rebellen haben sich Kindersoldaten gezüchtet, sie unter Drogen gesetzt und sie mit Alkohol abgefüllt. Ihnen rund um die Uhr gewaltsame Kriegsfilme gezeigt. Sie gezwungen zu töten, um dem eigenen Tod zu entgehen.


Dieses Land ist prall gefüllt mit Horrorgeschichten. Keiner gibt natürlich zu, bei den Rebellen gewesen zu sein. Mir wurde mal erzählt, dass die Verrückten, die man hier immer wieder auf der Straße sieht, dass die zu den Rebellen gehörten und es einfach nicht geschafft haben, in ein normales Leben zurück zu kehren. Sie sind verrückt geworden. Viele aber, haben es geschafft. Führen heute ein normales Leben.

Für mich, als normales, verwöhntes deutsches Mädchen gibt es immer wieder nur ein Wort, dass das Leben hier beschreibt: KRASS!


An manchen Tagen vergesse ich die Geschichte von Sierra Leone. An den meisten Tagen werde ich ständig daran erinnert. Durch Geschichten. Durch die vielen vielen Menschen mit amputierten Gliedmaßen. Alle paar Meter begegnet man einem Menschen ohne Arme, ohne Beine. Diese Horrorgeschichte, dass die Rebellen den Zivilisten die Gliedmaßen abgeschlagen haben, die ist hier furchtbar real. So viele amputierte Menschen habe ich nie zuvor gesehn.

Während des Krieges haben sich die Rebellen die Zeit vertrieben in dem sie Wetten abgeschlossen haben. Sobald sie eine schwangere Frau getroffen haben, haben sie gewettet, ist es ein Junge oder ein Mädchen?

Und wie findet man raus, wer gewonnen hat? Man schlitzt die Frau einfach auf. Und lässt sie und das Baby dann verblutend liegen. Solche Geschichten gibt es viele. Unfassbar grausam.

Man kann sich kaum vorstellen, wie groß die Angst unter den Zivilisten war.

Die meisten Sierra Leoneans wohnen in Buschdörfern, die Rebellen sind dort eingefallen und die Menschen dort, hatten keine Ahnung um was es überhaupt geht. Sie wohnten ohne Zugang zu Presse, TV, es gab kein Telefon, nichts. Plötzlich kamen Soldaten und haben Alle niedergemetzelt, die Hütten abgebrannt.

Wenn ein Flugzeug zu tief fliegt und sich plötzlich alle um mich herum ducken und auf den Boden schmeissen. Es ist ein paar Jahre her und die Menschen leben friedlich zusammen, Muslime und Christen, sind freundlich und hilfsbereit. Sie haben verdrängt. Aber nicht vergessen. Das Trauma steckt noch in ihnen.

Tief versteckt, aber es ist da.

Und manchmal, wenn sie Vertrauen in dich gefunden haben, dann öffnen sie ihr Herz und erzählen dir ihre Geschichte. Diese Geschichten sind manchmal unglaublich, unfassbar, schrecklich, sie machen dich fassungslos, erschüttern dich und berühren dich. Aber gleichzeitig freust du dich, dass wieder ein Mensch mehr, so ein Vertrauen in dich hat und dich so gern hat, dass er sein Inneres nach Aussen kehrt, dich teilhaben lässt an den schlimmsten Ereignissen seines Lebens.

Ich hoffe so sehr für dieses Land und für diese Menschen, dass sie von weiteren schlimmen Ereignissen verschont werden.

Sie haben es verdient!

Ich habe immer wieder gefragt, wie habt ihr es geschafft einander zu verzeihen? Denn heute leben Rebellen, Soldaten, Zivilisten nebeneinander. Ohne Hass, ohne Gewalt. Die Antwort von vielen war:

Wir sind gut im Vergessen, wir mussten vergessen. Wie hätten wir sonst weiterleben sollen? Wir wissen ja nicht welcher einzelne Soldat unsere Familie getötet hat. Sollen wir pauschal alle hassen? Das geht nicht. Also haben sie verziehen und vergessen. Aber tief in sich tragen sie doch alle ihre Geschichte mit sich. Und manchmal bröckelt die Mauer und dann lassen sie mich teilhaben.

Und ich habe noch in keinem Land auf der Welt so freundliche und hilfsbereite Menschen getroffen. Jeder nimmt sich Zeit für ein Gespräch, alle sind immer nett. Es gibt wenig Kriminalität. Ich werde so oft angesprochen, auf meine Tasche oder mein Telefon aufzupassen. Sie achten aufeinander.

Und immer wieder höre ich: Am Ende sind wir doch alle vom gleichen Ursprung, am Ende sind wir doch alle Brüder und Schwestern. Eine Familie. Da haben sie recht.

19 Wochen


Ich bin seit 19 Wochen in Freetown. Es fühlt sich aber an, als wäre ich ewig hier. Eingewöhnt habe ich mich ziemlich schnell. Zum Glück. Denn dieses Land fordert Alles. Meine kompletten Resourcen. Hätte ich da noch lange gebraucht um mich hier zurecht zu finden, oje, dann wäre ich noch erschöpfter als ich schon bin.

Fast jeder einzelne Tag ist eine Herausforderung und ich gehe mehr an meine Grenzen als je zuvor. Ich arbeite direkt im Stadtzentrum, auf der anderen Straßenseite liegt einer der größten Slums. Es ist ultralaut, Markgeschrei, Musik, Gehupe den ganzen Tag. Da Freetown so gut wie nie schläft, ist es rund um die Uhr laut, extrem laut. Vor unserem Kinderschutzhaus ist direkt der Markt, durch den ich mich mehrmals am Tag durchquetsche. Menschenmassen. Immer.

Bin ich endlich in meinem Büro angekommen, habe ich kaum mehr ein paar Minuten pro Tag Ruhe. Die Menschen kommen nacheinander in mein Büro, manchmal auch mehrere gleichzeitig. Geld für Essen, Kleidung, Putzmittel, Benzin….usw.

Manchmal helfe ich in der Schule aus und unterrichte, oder ich lasse die Kids an meine Haare, oder wir haben einfach nur Spaß, gehen mit den Slum-Kindern Fussball spielen, oder ich bin der Babysitter für den Jungen unserer Putzfrau.

Dann kommen die persönlichen Anliegen, Todesfälle in der Familie. Es vergeht nicht eine einzige Woche in der nicht mind. 1-2 Angehörige eines meiner Teammitglieder sterben. Die Lebenserwartung hier liegt bei 50. Also habe ich mind. 1x pro Woche irgendjemanden im Arm, den ich tröste. 

Dazu kommen all die toten Babys und Kinder im Krankenhaus. Wenn ich meine Kollegen dort besuche und mit unseren Strassenkindern dort bin, ich sehe einfach immer mindestens 5 Re-Animationen an kleinen Kindern oder Babys und an mir wurden schon unzählige Babyleichen vorbeigetragen. Der Tod ist dauerhaft um mich.

Mein Tag ist vollgestopft mit allem möglichen Organisatorischem. Bei über 60 Angestellten für die ich verantwortlich bin, ist das eine echte Herausforderung.

Und natürlich meine Kids. Straßenkinder in Afrika sind eine ganz andere Nummer als in Deutschland. Oh. Mein. Gott. So anstrengend. Kaum ein Tag ohne Schlägereien. Und zwar vom Feinsten. Auspeitschen mit Gürteln, Schlagen mit Wasserkanistern, Abstechen mit Zahnbürsten.  Diese Kinder leben teilweise monatelang auf der Straße. Das bedeutet, Alles tun um zu überleben. Kaum ein Kind das bei uns einzieht, hat eine einfache Geschichte.

Die Mädchen sind fast immer sexuell missbraucht, haben als Prostituierte gearbeitet. Oder sind bei Männern untergekommen, die ihnen Essen und Bett für Sex geben. 

Das jüngste Mädchen das wir bisher hier hatten, ist 5 Jahre alt, die älteste war bisher 17 Jahre alt. Ich habe ständig mit HIV/Aids zu tun oder sonstigen schlimmen Krankheiten.

Einige Kinder werden geschlagen. Und das aufs Übelste. Ein Junge den wir aktuell hier haben, wurde immer aufgehängt und ausgepeitscht.

Diese Geschichten sind also mein Alltag. Ich habe damit umzugehen gelernt. Ich lasse das an meiner Mauer abprellen. Nur selten kriegt die Mauer einen Riss.

Zuletzt bei Sheriff (11 Jahre) und seinem Bruder David (14 Jahre).

Ich habe die beiden vor 3 Wochen kennengelernt als wir (meine dt. Kollegen) vom Strand nach Hause wollten und einen Platten hatten. Es war schon dunkel und wir hatten Probleme mit dem Wagenheber. Die Dorfbewohner haben uns geholfen und die beiden Jungs standen die ganzen 2 Stunden bei mir und wir haben uns angefreundet. Wir verbringen fast jedes Wochenende am Strand, daher habe ich die beiden letzten Wochenenden auch mit den beiden Jungs verbracht. Letzten Samstag war mein Kollege mit dem Großen im Meer schwimmen und als er zurückkam, hat er mich gebeten mit David unter 4 Augen zu reden. Weil ich irgendwie zu Davids Bezugsperson geworden bin.

David und ich sind lange am Strand spazieren gegangen und er hat mir seine Geschichte erzählt. 

Dabei hat er sich ausgezogen und mir seinen Körper gezeigt. Das war das erste Mal, das ich hier geweint habe. Ich konnte nicht stoppen. Mir sind einfach die Tränen übers Gesicht gelaufen. David hat innerhalb kürzester Zeit meine Mauer zum einstürzen gebracht.

Davids Körper ist übersät mit Narben. Und richtigen Narbengeschwülsten.

Sein Onkel peitscht ihn immer wieder aus. Immer wieder auf die gleichen Stellen, damit die Wunden nicht heilen. Bis sich irgendwann riesige Geschwülste bilden.

Er schüttet ihm heisses Wasser über den Körper. Und wenn David dann seine Hände nicht zum arbeiten benutzen kann, wird er zur Strafe wieder ausgepeitscht.

David ist ein wunderbarer Junge. Er ist ruhig, schüchtern, still und in sich gekehrt. Bis er redet, das dauert. Er lacht wenig. Seine Augen sind immer traurig und er starrt ins Leere. David schützt seinen jüngeren Bruder, stellt sich immer vor ihn und nimmt alle Schläge auf sich.

Als ich den Kleinen frage ob auch er geschlagen wird, kuckt er verdutzt. David erklärt mir, er versteht nicht von was wir reden.

Das ganze Wochenende versorge ich die beiden mit Essen. Da der Onkel verreist ist, besteht aktuell keine Gefahr. David kommt bei einem Freund unter, Sheriff beim Großvater.

Die beiden haben mich mitgenommen zu den Großeltern. Ganz herzliche Menschen, die gerne die beiden Jungs aufnehmen würden, aber sie sind zu arm, die Hütte zu klein. 

Ich lasse genug Geld für Essen für eine Woche da und verspreche wiederzukommen.

Diese beiden Jungs sind so toll. Sie sollten das nicht durchmachen müssen.

Meine beiden Ärztekollegen haben mich gesehn als ich zurückkam und haben die Jungs mitgenommen zum Fussball spielen. Damit ich Zeit habe runterzukommen, aufhören kann zu weinen. David hatte dabei soviel Spaß, dass er tatsächlich von Herzen gelacht hat.

Ich war heute wieder dort, mit einem meiner Sozialarbeiter. Wir haben uns einen Plan überlegt, wie es weitergeht. Auf keinen Fall, lasse ich diese beiden Jungs bei dem Onkel.

Wir haben eine 1-Zimmer Wohnung für die Familie gefunden, in dem Haus eines anderen Onkels. Dort können Oma, Opa und die beiden Jungs leben. Wir werden ihnen ein Starterpaket an Lebensmitteln zur Verfügung stellen, damit bauen sie sich einen kleinen Shop auf uns sorgen so eigenständig für ihren Unterhalt. Wir unterstützen sie mit Möbeln und kommen erstmal für die Schulgebühren auf. Davids Wunden habe ich heute nochmal neu desinfiziert und verbunden. Das Mittel und Verbandsmaterial habe ich ihm da gelassen, bis ich das nächste Mal komme, muss er das jetzt selber hinkriegen.

Geld für Essen habe ich dem Großvater gegeben, damit kommen sie jetzt mal eine Woche klar. Nächste Woche fahre ich mit Samuel wieder hin und wir starten die Notfall Hilfe.

Solche Geschichten erlebe ich fast jeden Tag. Normalerweise aber, kommen die Kinder zu uns ins Kinderhaus und ich weiß von vornherein, mit ihnen kommt eine Geschichte. Bei den beiden Jungs ist es anders gewesen, die habe ich ins Herz geschlossen und dann plötzlich kommt die Wahrheit ans Licht. Ich kann nicht genau sagen warum mich die beiden, insbesondere David, so berühren. So viel mehr als alle Anderen. Aber ich kann kaum ertragen ihn anzusehen. Muss ihn ständig in den Arm nehmen, ihm sagen, dass er nicht länger allein ist. Ich werde ihm nächste Woche ein Handy mitbringen, damit er mich immer anrufen kann. Am Allerliebsten würde ich ihn und Sheriff mit nach Hause nehmen, aber das geht natürlich nicht. 

Dann gibt es noch unser Hygiene Projekt in den Slums. Dort haben wir 9 Toilettenhäuser gebaut und Reinigungspersonal angestellt. Wir unterrichten die Menschen in den Slums in Hygiene Dingen und seit wir das machen ist keine Epidemie mehr ausgebrochen. 

Das ist allerdings nicht alles. Wenn es Probleme im Slum gibt, kommt der Teamleiter unseres Slum-Teams und holt mich. Vor ein paar Wochen, war es eine Müll-Lawine die die Blechhütten überrollt hat. 

Letzte Woche hat eine Hütte angefangen zu brennen und das Feuer ist natürlich schnell auf andere Hütten übergesprungen. Saidu (Teamleiter Slum) und ich sind sofort hin und haben versucht die Leute vom Feuer wegzuholen. Hinterher dachte ich, ganz schön leichtsinnig. Ich war direkt am Brandherd und habe die Kinder da weggeholt. 2 Stunden lang den Rauch eingeatmet, neben mir sind die Blechteile runtergekracht. Aber mir ist nichts passiert und insgesamt gab es keine Schwerverletzten und keine Toten. Ich habe 4 Kinder mit ins Pikin Paddy genommen, sie liefen da weinend rum, ihr Zuhause abgebrannt und von den Eltern keine Spur. Später kamen die Eltern zu uns und waren Gott sei Dank am Leben.

Ich hatte den Rest vom Tag furchtbare Kopfschmerzen, mehr als sonst. 

2 Tage vor dem Brand hat mich morgens um 5:30 einer meiner Sozialarbeiter angerufen, 2 Sozialarbeiter und unser Fahrer waren unterwegs um Kinder ins Landesinnere nach Hause zu bringen. Es gab einen Unfall und unser Ambulanz Fahrzeug war Schrott. Zum Glück bis auf kleine Verletzungen nichts passiert. 

Tja, so verbringe ich meine Wochen hier. Es gibt kaum eine Woche ohne irgendein Drama. Kaum einen Tag ohne traurige Geschichten. 

Und wäre das Alles nicht genug, wohne ich mit meinen 4 Kollegen (2 Ärzte, 1 Krankenschwester, 1 Sozialarbeiter) zusammen. Wenn man dann nach solchen Tagen nach Hause kommt, und dieses Zuhause mit 4 anderen Menschen teilt, dann ist das manchmal eine zusätzliche Belastung. An manchen Tagen bin ich froh, wenn jemand da ist zum Reden. Manchmal aber, da gehen sie mir alle auf den Keks und ich wäre lieber alleine. Ich habe zwar mein Zimmer (zum Glück mit eigenem Badezimmer), aber trotzdem ist es natürlich anstrengend wenn 5 verschiedene Charaktere nach einem anstrengenden Tag nach Hause kommen. 

Und am Ende kommt dann die Hitze. Es ist sehr, sehr warm hier, aber was noch schlimmer ist, die Luftfeuchtigkeit. Man schwitzt einfach dauerhaft. Und mit schwitzen meine ich, die Schweißtropfen laufen einem übers Gesicht, die Haare sind nass, ebenso die Klamotten. 

Dann will man einfach nur noch unter die Dusche und den Dreck des ganzen Tages von sich waschen. Wenn man denn Wasser hat! Oft genug, gibt es keinen Strom und kein Wasser. Dann waschen wir uns mit Wasser aus den Kanistern die wir immer auf Vorrat haben.

Oft genug vergessen wir unsere Gasflaschen auszutauschen und kochen dann unser Abendessen im Hof auf einem kleinen Gaskocher.

Back to the roots. Abenteuerlich. Anstrengend. Ohne Strom kann ich leben, wir sorgen immer (meistens) dafür, dass unsere Powerbank aufgeladen ist. An das dauerhafte Tragen einer Stirnlampe habe ich mich gewöhnt, ich kann sogar damit duschen.

Aber wenn kein Wasser da ist, das nervt echt. Vorgestern war ich gerade komplett eingeschäumt, da war das Wasser weg. Mein Kollege musste mir mit Trinkwasser das Shampoo aus den Haaren waschen. Ganz „Jenseits von Afrika“ -mässig. Aber nicht halb so romantisch. Eher nervig. 

Kopfweh habe ich hier auch relativ häufig. Der Müll wird einfach überall verbrannt, oft fahren wir durch richtige Nebelwolken, verbranntes Plastik und Gummi. Einfach alles wird einfach an Ort und Stelle verbrannt. Da tun die Augen, die Nase und der Kopf manchmal heftig weh.

Also in Summe kann ich sagen, die Arbeit ist absolut anstrengend, ich gehe ständig an mein Limit. Das Leben hier ist laut, hektisch, erschöpfend.

Immer wieder muss man improvisieren. Ich bin dauer-erschöpft. Immer super früh im Bett. Wobei durchschlafen bei dem Lärm auch unmöglich ist.

Ich freue mich schon heute auf den Besuch in meiner Heimat, in dem kleinen Schwarzwald Dörfchen. Trotz all der Probleme und schwierigen Umstände in einem der ärmsten Länder der Welt, wundere ich mich manchmal wie gut viele Dinge trotzdem funktionieren.

Und trotz all der Probleme und dem schwierigen Leben hier, macht es nach wie vor so viel Spaß und Freude hier zu sein.

Die Arbeit ist oft schlimm und traurig. Wenn man aber Kinder von der Straße holt, sie einen jeden Morgen mit vielen Umarmungen begrüßen, sie wieder in die Familie integrieren kann, sie zu essen haben und wieder zur Schule gehen, dann macht das alles wieder gut. Dann erinnert man sich, warum man hier ist. Was man alles erreichen kann. 

Es ist fürchterlich schlimm. Und wunderbar schön. Und die Menschen hier sind einfach unglaublich. Ich lerne so viele tolle Persönlichkeiten kennen. Die durch die Hölle gegangen sind und doch ihr Leben in den Griff gekriegt haben.

Wenn ich durch die Slums gehe und sie meinen Namen rufen, dann freue ich mich. Dass ich mich so schnell so eingewöhnt habe, dass sie mich kennen. Dass ich so vielen Menschen, dank Cap Anamur, helfen konnte. 

Und am meisten freue ich mich, dass ich David, Sheriff und ihren Großeltern ein neues, besseres Leben schenken kann. Dass er nicht mehr leiden muss. Dass David mir glaubt und mir ein Lächeln schenkt, wenn ich sage: „ Du bist nicht mehr allein und du musst nie wieder zu diesem Menschen zurück. Ich bin an deiner Seite und ich lasse nicht zu, dass dir jemals wieder jemand sowas antut.“ Dann nimmt er meine Hand und ich weiß, all das lohnt sich. Meine Sorgen, meine Jammern, meine Probleme sind einfach nichts. Lösen sich in Luft auf. Wenn ich sehe, was Kinder hier durchmachen. Dass Kinder nie Kind sein dürfen. Dass sie anfangen zu arbeiten sobald sie laufen gelernt haben. Was sind da meine Probleme dagegen. Nichts!

Am Ende macht mein Aufenthalt hier Sinn. So viel Sinn. Und ich hoffe, ich halte noch lange durch!





 14 Wochen


Ich bin heute genau seit 14 Wochen in Freetown. Es fühlt sich aber an, als wäre ich ewig hier. Eingewöhnt habe ich mich ziemlich schnell. Zum Glück. Denn dieses Land fordert Alles. Meine kompletten Resourcen. Hätte ich da noch lange gebraucht um mich hier zurecht zu finden, oje, dann wäre ich noch erschöpfter als ich schon bin.

Fast jeder einzelne Tag ist eine Herausforderung und ich gehe mehr an meine Grenzen als je zuvor. Ich arbeite direkt im Stadtzentrum, auf der anderen Straßenseite liegt einer der größten Slums. Es ist ultralaut, Markgeschrei, Musik, Gehupe den ganzen Tag. Da Freetown so gut wie nie schläft, ist es rund um die Uhr laut, extrem laut. Vor unserem Kinderschutzhaus ist direkt der Markt, durch den ich mich mehrmals am Tag durchquetsche. Menschenmassen. Immer.

Bin ich endlich in meinem Büro angekommen, habe ich kaum mehr ein paar Minuten pro Tag Ruhe. Die Menschen kommen nacheinander in mein Büro, manchmal auch mehrere gleichzeitig. Geld für Essen, Kleidung, Putzmittel, Benzin....usw.

Dann kommen die persönlichen Anliegen, Todesfälle in der Familie. Es vergeht nicht eine einzige Woche in der nicht mind. 1-2 Angehörige eines meiner Teammitglieder sterben. Die Lebenserwartung hier liegt bei 50. Also habe ich mind. 1x pro Woche irgendjemanden im Arm, den ich tröste. Dazu kommen all die toten Babys und Kinder im Krankenhaus. Wenn ich meine Kollegen dort besuche und mit unseren Strassenkindern dort bin, ich sehe einfach immer mindestens 5 Re-Animationen an kleinen Kindern oder Babys und an mir wurden schon unzählige Babyleichen vorbeigetragen. Der Tod ist dauerhaft um mich.

Mein Tag ist vollgestopft mit allem möglichen Organisatorischem. Bei über 60 Angestellten für die ich verantwortlich bin, ist das eine echte Herausforderung.

Dazu kommen noch die Kids. Straßenkinder in Afrika sind eine ganz andere Nummer als in Deutschland. Oh. Mein. Gott. So anstrengend. Kaum ein Tag ohne Schlägereien. Und zwar vom Feinsten. Auspeitschen mit Gürteln, Schlagen mit Wasserkanistern, Abstechen mit Zahnbürsten. Diese Kinder leben teilweise monatelang auf der Straße. Das bedeutet, Alles tun um zu überleben. Kaum ein Kind das bei uns einzieht, hat eine einfache Geschichte.

Die Mädchen sind fast immer sexuell missbraucht, haben als Prostituierte gearbeitet. Oder sind bei Männern untergekommen, die ihnen Essen und Bett für Sex geben.

Das jüngste Mädchen das wir bisher hier hatten, ist 5 Jahre alt, die älteste war bisher 17 Jahre alt. Ich habe ständig mit HIV/Aids zu tun oder sonstigen schlimmen Krankheiten. Einige Kinder werden geschlagen. Und das aufs Übelste. Ein Junge den wir aktuell hier haben, wurde immer aufgehängt und ausgepeitscht.

Diese Geschichten sind also mein Alltag. Ich habe damit umzugehen gelernt. Ich lasse das an meiner Mauer abprellen. Nur selten kriegt die Mauer einen Riss.

Zuletzt bei Sheriff (11 Jahre) und seinem Bruder David (14 Jahre).

Ich habe die beiden vor 3 Wochen kennengelernt als wir (meine dt. Kollegen) vom Strand nach Hause wollten und einen Platten hatten. Es war schon dunkel und wir hatten Probleme mit dem Wagenheber. Die Dorfbewohner haben uns geholfen und die beiden Jungs standen die ganzen 2 Stunden bei mir und wir haben uns angefreundet. Wir verbringen fast jedes Wochenende am Strand, daher habe ich die beiden letzten Wochenenden auch mit den beiden Jungs verbracht. Letzten Samstag war mein Kollege mit dem Großen im Meer schwimmen und als er zurückkam, hat er mich gebeten mit David unter 4 Augen zu reden. Weil ich irgendwie zu Davids Bezugsperson geworden bin.

David und ich sind lange am Strand spazieren gegangen und er hat mir seine Geschichte erzählt.

Dabei hat er sich ausgezogen und mir seinen Körper gezeigt. Das war das erste Mal, das ich hier geweint habe. Ich konnte nicht stoppen. Mir sind einfach die Tränen übers Gesicht gelaufen. David hat innerhalb kürzester Zeit meine Mauer zum einstürzen gebracht.

Davids Körper ist übersät mit Narben. Und richtigen Narbengeschwülsten.

Sein Onkel peitscht ihn immer wieder aus. Immer wieder auf die gleichen Stellen, damit die Wunden nicht heilen. Bis sich irgendwann riesige Geschwülste bilden.

Er schüttet ihm heisses Wasser über den Körper. Und wenn David dann seine Hände nicht zum arbeiten benutzen kann, wird er zur Strafe wieder ausgepeitscht.

David ist ein wunderbarer Junge. Er ist ruhig, schüchtern, still und in sich gekehrt. Bis er redet, das dauert. Er lacht wenig. Seine Augen sind immer traurig und er starrt ins Leere.

 David schützt seinen jüngeren Bruder, stellt sich immer vor ihn und nimmt alle Schläge auf sich.

Als ich den Kleinen frage ob auch er geschlagen wird, kuckt er verdutzt. David erklärt mir, er versteht nicht von was wir reden.

Das ganze Wochenende versorge ich die beiden mit Essen. Da der Onkel verreist ist, besteht aktuell keine Gefahr. David kommt bei einem Freund unter, Sheriff beim Großvater. Die beiden haben mich mitgenommen zu den Großeltern. Ganz herzliche Menschen, die gerne die beiden Jungs aufnehmen würden, aber sie sind zu arm, die Hütte zu klein.

Ich lasse genug Geld für Essen für eine Woche da und verspreche wiederzukommen.

Diese beiden Jungs sind so toll. Sie sollten das nicht durchmachen müssen.

Meine beiden Ärztekollegen haben mich gesehn als ich zurückkam und haben die Jungs mitgenommen zum Fussball spielen. Damit ich Zeit habe runterzukommen, aufhören kann zu weinen. David hatte dabei soviel Spaß, dass er tatsächlich von Herzen gelacht hat.

Ich war heute wieder dort, mit einem meiner Sozialarbeiter. Wir haben uns einen Plan überlegt, wie es weitergeht. Auf keinen Fall, lasse ich diese beiden Jungs bei dem Onkel. Wir haben eine 1-Zimmer Wohnung für die Familie gefunden, in dem Haus eines anderen Onkels. Dort können Oma, Opa und die beiden Jungs leben. Wir werden ihnen ein Starterpaket an Lebensmitteln zur Verfügung stellen, damit bauen sie sich einen kleinen Shop auf uns sorgen so eigenständig für ihren Unterhalt. Wir unterstützen sie mit Möbeln und kommen erstmal für die Schulgebühren auf. Davids Wunden habe ich heute nochmal neu desinfiziert und verbunden. Das Mittel und Verbandsmaterial habe ich ihm da gelassen, bis ich das nächste Mal komme, muss er das jetzt selber hinkriegen.

Geld für Essen habe ich dem Großvater gegeben, damit kommen sie jetzt mal eine Woche klar. Nächste Woche fahre ich mit Samuel wieder hin und wir starten die Notfall Hilfe.

Solche Geschichten erlebe ich fast jeden Tag. Normalerweise aber, kommen die Kinder zu uns ins Kinderhaus und ich weiß von vornherein, mit ihnen kommt eine Geschichte. Bei den beiden Jungs ist es anders gewesen, die habe ich ins Herz geschlossen und dann plötzlich kommt die Wahrheit ans Licht. Ich kann nicht genau sagen warum mich die beiden, insbesondere David, so berühren. So viel mehr als alle Anderen. Aber ich kann kaum ertragen ihn anzusehen. Muss ihn ständig in den Arm nehmen, ihm sagen, dass er nicht länger allein ist. Ich werde ihm nächste Woche ein Handy mitbringen, damit er mich immer anrufen kann. Am Allerliebsten würde ich ihn und Sheriff mit nach Hause nehmen, aber das geht natürlich nicht.

Dann gibt es noch unser Hygiene Projekt in den Slums. Dort haben wir 9 Toilettenhäuser gebaut und Reinigungspersonal angestellt. Wir unterrichten die Menschen in den Slums in Hygiene Dingen und seit wir das machen ist keine Epidemie mehr ausgebrochen.

Das ist allerdings nicht alles. Wenn es Probleme im Slum gibt, kommt der Teamleiter unseres Slum-Teams und holt mich. Vor ein paar Wochen, war es eine Müll-Lawine die die Blechhütten überrollt hat.

Letzte Woche hat eine Hütte angefangen zu brennen und das Feuer ist natürlich schnell auf andere Hütten übergesprungen. Saidu (Teamleiter Slum) und ich sind sofort hin und haben versucht die Leute vom Feuer wegzuholen. Hinterher dachte ich, ganz schön leichtsinnig. Ich war direkt am Brandherd und habe die Kinder da weggeholt. 2 Stunden lang den Rauch eingeatmet, neben mir sind die Blechteile runtergekracht. Aber mir ist nichts passiert und insgesamt gab es keine Schwerverletzten und keine Toten. Ich habe 4 Kinder mit ins Pikin Paddy genommen, sie liefen da weinend rum, ihr Zuhause abgebrannt und von den Eltern keine Spur. Später kamen die Eltern zu uns und waren Gott sei Dank am Leben.

Ich hatte den Rest vom Tag furchtbare Kopfschmerzen, mehr als sonst.

2 Tage vor dem Brand hat mich morgens um 5:30 einer meiner Sozialarbeiter angerufen, 2 Sozialarbeiter und unser Fahrer waren unterwegs um Kinder ins Landesinnere nach Hause zu bringen. Es gab einen Unfall und unser Ambulanz Fahrzeug war Schrott. Zum Glück bis auf kleine Verletzungen nichts passiert.

Tja, so verbringe ich meine Wochen hier. Es gibt kaum eine Woche ohne irgendein Drama. Kaum einen Tag ohne traurige Geschichten.

Und wäre das Alles nicht genug, wohne ich mit meinen 4 Kollegen (2 Ärzte, 1 Krankenschwester, 1 Sozialarbeiter) zusammen. Wenn man dann nach solchen Tagen nach Hause kommt, und dieses Zuhause mit 4 anderen Menschen teilt, dann ist das manchmal eine zusätzliche Belastung. An manchen Tagen bin ich froh, wenn jemand da ist zum Reden. Manchmal aber, da gehen sie mir alle auf den Keks und ich wäre lieber alleine. Ich habe

 zwar mein Zimmer (zum Glück mit eigenem Badezimmer), aber trotzdem ist es natürlich anstrengend wenn 5 verschiedene Charaktere nach einem anstrengenden Tag nach Hause kommen.

Und am Ende kommt dann die Hitze. Es ist sehr, sehr warm hier, aber was noch schlimmer ist, die Luftfeuchtigkeit. Man schwitzt einfach dauerhaft. Und mit schwitzen meine ich, die Schweißtropfen laufen einem übers Gesicht, die Haare sind nass, ebenso die Klamotten. Dann will man einfach nur noch unter die Dusche und den Dreck des ganzen Tages von sich waschen. Wenn man denn Wasser hat! Oft genug, gibt es keinen Strom und kein Wasser. Dann waschen wir uns mit Wasser aus den Kanistern die wir immer auf Vorrat haben.

Oft genug vergessen wir unsere Gasflaschen auszutauschen und kochen dann unser Abendessen im Hof auf einem kleinen Gaskocher.

Back to the roots. Abenteuerlich. Anstrengend. Ohne Strom kann ich leben, wir sorgen immer (meistens) dafür, dass unsere Powerbank aufgeladen ist. An das dauerhafte Tragen einer Stirnlampe habe ich mich gewöhnt, ich kann sogar damit duschen.

Aber wenn kein Wasser da ist, das nervt echt. Vorgestern war ich gerade komplett eingeschäumt, da war das Wasser weg. Mein Kollege musste mir mit Trinkwasser das Shampoo aus den Haaren waschen. Ganz „Jenseits von Afrika“ -mässig. Aber nicht halb so romantisch. Eher nervig.

Kopfweh habe ich hier auch relativ häufig. Der Müll wird einfach überall verbrannt, oft fahren wir durch richtige Nebelwolken, verbranntes Plastik und Gummi. Einfach alles wird einfach an Ort und Stelle verbrannt. Da tun die Augen, die Nase und der Kopf manchmal heftig weh. Also in Summe kann ich sagen, die Arbeit ist absolut anstrengend, ich gehe ständig an mein Limit. Das Leben hier ist laut, hektisch, erschöpfend.

Immer wieder muss man improvisieren. Ich bin dauer-erschöpft. Immer super früh im Bett. Wobei durchschlafen bei dem Lärm auch unmöglich ist.

Ich freue mich schon heute auf den Besuch in meiner Heimat, in dem kleinen Schwarzwald Dörfchen.

Trotz all der Probleme und schwierigen Umstände in einem der ärmsten Länder der Welt, wundere ich mich manchmal wie gut viele Dinge trotzdem funktionieren.

Und trotz all der Probleme und dem schwierigen Leben hier, macht es nach wie vor so viel Spaß und Freude hier zu sein.

Die Arbeit ist oft schlimm und traurig. Wenn man aber Kinder von der Straße holt, sie einen jeden Morgen mit vielen Umarmungen begrüßen, sie wieder in die Familie integrieren kann, sie zu essen haben und wieder zur Schule gehen, dann macht das alles wieder gut. Dann erinnert man sich, warum man hier ist. Was man alles erreichen kann.

Es ist fürchterlich schlimm. Und wunderbar schön. Und die Menschen hier sind einfach unglaublich. Ich lerne so viele tolle Persönlichkeiten kennen. Die durch die Hölle gegangen sind und doch ihr Leben in den Griff gekriegt haben.

Wenn ich durch die Slums gehe und sie meinen Namen rufen, dann freue ich mich. Dass ich mich so schnell so eingewöhnt habe, dass sie mich kennen. Dass ich so vielen Menschen, dank Cap Anamur, helfen konnte.

Und am meisten freue ich mich, dass ich David, Sheriff und ihren Großeltern ein neues, besseres Leben schenken kann. Dass er nicht mehr leiden muss. Dass David mir glaubt und mir ein Lächeln schenkt, wenn ich sage: „ Du bist nicht mehr allein und du musst nie wieder zu diesem Menschen zurück. Ich bin an deiner Seite und ich lasse nicht zu, dass dir jemals wieder jemand sowas antut.“ Dann nimmt er meine Hand und ich weiß, all das lohnt sich. Meine Sorgen, meine Jammern, meine Probleme sind einfach nichts. Lösen sich in Luft auf. Wenn ich sehe, was Kinder hier durchmachen. Dass Kinder nie Kind sein dürfen. Dass sie anfangen zu arbeiten sobald sie laufen gelernt haben. Was sind da meine Probleme dagegen. Nichts!

Am Ende macht mein Aufenthalt hier Sinn. So viel Sinn. Und ich hoffe, ich halte noch lange durch!


Eine Woche als Projektkoordinatorin


Meine Berufsbezeichnung ist Projektkoordinatorin. Was bedeutet das eigentlich? Was macht man denn da so jeden Tag? Jede Woche? Was gibts da zu koordinieren?

Ich versuche mal meine letzte Woche zusammen zu fassen…

Mein Wecker klingelt um 5:50 Uhr, dann gönne ich mir erstmal einen Kaffee und eine Guten-Morgen-Zigarette auf meinem eigenen Balkon (ja, ja, ich weiß, rauchen ist kacke). Davor schalte ich den Warmwasser Boiler an, ich dusche abends meist kalt, weil ich den Boiler vergesse, aber morgens, eiskalte Dusche, ne, das geht irgendwie nicht. 

Unsere Fahrer Lamin und Abbas kommen zwischen 7 und 7:15, ich bin meist schon um 7 Uhr unten um noch ein Schwätzchen mit den Security Jungs zu halten, wie war die Nacht, wie gehts euch, bla bla…

Dann gehts mit einem Auto ins Pikin Paddy (Name des Kinderschutzhauses und bedeutet: Freund der Kinder), das andere Auto bringt die Kollegen ins Kinderkrankenhaus. Wir brauchen so zwischen 30 und 45 Minuten, der erste Teil der Strecke ist schnell vorbei, aber dann durch den Markt, das Verkehrschaos und all die Menschen, da geht nur Schritt-Tempo.

Am Eingang ein kurzer Austausch mit der Security und den Marktfrauen die bereits vor unseren Türen ihr Geschäft betreiben. Dann noch kurz den kleinen Kello knuddeln (Sohn unserer Putzfrau, 8 Monate alt), am Eingang auch die Hände waschen, das ist noch eine Tradition aus der Ebola-Zeit. Treppe hoch zum 1. Stockwerk, links gehts in den großen Meetingraum, daneben ein kleiner Meetingraum und unser Store für Essen und sonstigen Utensilien, am Ende das Büro der Sozialarbeiter. Da führt mein erster Weg hin, kurz Guten Morgen sagen und quatschen, dann weiter nach rechts, dort ist die große Küche. Hier brennen bereits die Kohleöfen und es ist einfach nur heiss, spätestens hier kommt mein erster Schweißausbruch. Kurzer Austausch mit den 4 Köchinnen/Koch und unserer Haushälterin. Die bekommt dann kurze Hinweise was im Teamhaus so anfällt und zieht dann los in unser Zuhause um sich um unser leibliches Wohl zu kümmern. Meist treffe ich in der Küche auch auf alle möglichen sonstigen Angestellten, die sich hier nen Tee holen oder ne Kleinigkeit zu essen. 

Dann gehts weiter in den 2. Stock. Hier wohnen die Jungs, die männlichen Betreuer haben hier ihren Aufenthaltsraum, der Vorratsraum für Zwiebeln und sonstige Nahrungsmittel, sowie ein separates Schlafzimmer mit 6 Betten, falls mal Kinder ansteckende Krankheiten haben und man sie separieren muss. Auf der Treppe stürmen mir schon die ersten Jungs entgegen und umarmen mich. Ich schaffe es irgendwie bis in den Schlafraum wo dann die übrigen ihre Umarmung abholen. Jeder schnattert durcheinander und hat was zu erzählen. Ich vertröste sie auf später und laufe die nächste Treppe hoch zum 3. Stock. Hier wohnen die Mädels, ein Aufenthaltsraum der weiblichen Betreuerinnen, die Apotheke/Untersuchungszimmer und noch ein kleiner Schlafraum. 

Die Mädels sind geduldiger, ruhiger, stiller. Sie warten im Zimmer ich setze mich kurz zu ihnen. 

Wie war die Nacht, alle zufrieden und glücklich, gibts Probleme, Sorgen, irgendwas akutes? Die weiblichen und männlichen Betreuer haben aber meist alles im Griff und ich werde selten direkt bei Ankunft mit Problemen zugeballert. Die folgen im Laufe des Tages.

Dann setz ich mich noch kurz zu Fifian, unser behinderter Junge, der bei den Mädchen wohnt. Bei den Jungs ist es zu chaotisch für Fifi. Ich rede kurz mit ihm, ohne zu wissen ob er irgendwas versteht, manchmal aber, da lächelt er mich kurz an.

Und dann weiter die nächste Treppe hoch, 4. Stock, mein Büro, ein Besucherzimmer, eine kleine Küche, mein eigenes Klo und die Schule. 

Es gibt noch einen 5. Stock, die Dachterrasse, hier spielen wir Fussball, machen Sport, hängen Wäsche zum Trocknen auf, es gibt Tischkicker und sonstige Brettspiele. Während der Schulzeit ist hier mein geheimer Rückzugsort. Wenn ich mal 5 Minuten Ruhe brauche, setze ich mich hier aufs Dach, schaue aufs Meer oder auf den Markt. Ganz geheim ist der Ort nicht mehr, irgendwer hat mich da mal gesehen und mittlerweile suchen und finden mich Alle da. Ich brauche nen neuen geheimen Ort, dringend.

Im Büro schalte ich erstmal Strom und Laptop an und will mich an die Arbeit machen. Funktioniert selten, denn meist steht dann schon der erste Mitarbeiter vor mir und hat irgendwelche Anliegen. Meine Vorgänger hatten die Bürotür immer geschlossen und wer rein wollte musste anklopfen und warten bis er aufgerufen wurde. Bei mir ist die Tür immer offen und es hängt ein Welcome-Schild dran. Ich mag nicht so separiert, alleine vor mich hin arbeiten.

Ein Teil meiner Arbeit ist Büro-Kram, Kassenbuch führen, Gelder auszahlen, Visa besorgen, organisieren, koordinieren, was im Büro halt so anfällt. Meist nehme ich Laptop und Quittungen mit nach Hause und mache das Abends, während des Tages habe ich nie mehr als 10-15 Minuten Ruhe, dann steht schon wieder jemand im Büro und will irgendwas.

Was das so ist?

Letzte Woche haben wir ja ca. 20 neue Kinder von der Straße geholt. Die meisten davon beim Night Tracking, viele werden aber auch von der Polizei gebracht oder finden ihren Weg allein zu uns. An dem Montag danach ist dann erstmal Gesundheits-check notwendig. Ent-Wurmungs-Tabletten verteilen und kontrollieren, dass alle die auch schlucken.

Dann die kranken Kinder checken, einer hat Zahnweh, also ab zum Zahnarzt mit einem Betreuer, Zahn muss gezogen werden. Den zweiter Zahn hat sich Osman dann am nächsten Tag selber rausgezogen, sehr gut, haben wir 5 Euro gespart…

Zahnarzt heisst immer, Zahn ziehen, Versuche einen Zahn zu retten ist viel zu teuer, das lohnt sich nicht. Daran musste ich mich gewöhnen, aber ist hier nun mal so.

Zwei Jungs haben geschwollene Hoden, die schicke ich mit Hassan zusammen los, der braucht eh nen Verbandswechsel, natürlich kommt auch hier ein Betreuer mit. Jetzt wird’s schon eng und wer jetzt noch irgendwohin muss, der muss warten, denn es sind nur noch 2 Betreuer im Haus. Manchmal fahre auch ich mit den Kids ins Krankenhaus, da dabei aber meistens 4-6 Stunden Zeit draufgehen, kann ich das nicht ständig machen, soviel Zeit habe ich nicht.

Ich checke noch die Köpfe von allen. Bei denjenigen mit heissem Kopf wird Fieber gemessen, bei Fieber wird direkt ein Malaria Test gemacht. Den machen wir selber, ich kann das mittlerweile auch, finde es nach wie vor schrecklich ein Kind mit der Nadel zu pieksen bis Blut fliesst, aber es gibt schlimmeres. Sollten sie tatsächlich Malaria haben, fangen wir direkt mit der Medikation an, wir haben alles Notwendige in unserer Apotheke. Malaria führt hier schnell zum Tod und wir sind da immer übervorsichtig.

Nachdem alle Jungs gecheckt und versorgt sind, kümmere ich mich darum, dass die Mädchen ins Rainbow Center kommen. Wenn ein Mädchen länger als ein paar Tage auf der Straße gelebt hat, ist davon auszugehen, dass sie ihren Körper verkauft hat oder vergewaltigt wurde. Im Rainbow Center kümmert man sich um solche Mädchen, sie werden untersucht, auf HIV, Hepatitis usw. getestet. Natürlich auch auf Schwangerschaft. Bisher waren wir vor Schwangerschaft verschont, diese Woche hatte ich allerdings ein 13-jähriges Mädchen das Hepatitis hat und schwanger ist. Na super. Was wir mit ihr machen, weiß ich grad noch nicht genau, aber da wird sich schon was finden. Sowas haut mich nicht mehr um und ich kann sehr sachlich damit umgehen. Irgendwie legt man sich ein dickes Fell zu und konzentriert sich auf Lösungen, nicht auf Probleme.

Die anderen Mädels sind ok, naja, zumindest körperlich. Um 8:30 startet der Tag offiziell. Die Kids versammeln sich mit der Lehrerin, den Betreuern und einem Sozialarbeiter in der Schule. Der Mood Morning beginnt. Erst wird gebetet. Christliches Gebet und muslimisches Gebet. Alle beten zusammen bei beiden Glaubensrichtungen mit. Wir lehren Akzeptanz, Respekt, Gleichberechtigung, Toleranz. Unabhängig von der Glaubensrichtung, beten Alle zusammen. Danach ein Lied. Danach geht jedes Kind einzeln nach vorne und sucht ein Smiley Gesicht aus, grün, gelb oder rot. Je nach Stimmung. Und dann begründet es seine Stimmung, bei gelb war vielleicht ein Zoff mit einem anderen Kind. Oder man fühlt sich krank.

Danach übernimmt der Sozialarbeiter. Er hat ein Thema vorbereitet über das nun diskutiert wird. Das gehört mit zum Programm. Wir versuchen die Attitüden die sich Straßenkinder aneignen um auf der Straße zu überleben, wieder irgendwie ins rechte Licht zu rücken. Themen sind z.B. Reden statt Gewalt, Ehrlichkeit, Toleranz, Respekt, usw..

Danach gehts zum Frühstück. Manchmal, wenn ich etwas Luft habe, dann nehme ich am Mood Morning teil. Frühstück lasse ich meistens aus, weil dann schon wieder Leute vorm Büro stehen und warten. Einer braucht Benzingeld, dann ist das Obst aus, die Leute aus dem Hygieneprojekt brauchen neues Putzzeug und Handschuhe, einer will Urlaub, der nächste will sich nur mal richtig auskotzen. Es gibt Tage, da geben sich die Angestellten die Klinke in die Hand und ich komme nicht mal zum frühstücken. 

Dazwischen gibt es auch noch das Finanzamt, das Geld will, die Wasser- und Stromrechnungen müssen bezahlt werden, Diensthandys brauchen Guthaben, ich treffe mich mit den Angestellten des Ministeriums für Kinder und Soziales. Dann kommen immer wieder Sozialarbeiter mit Härte-Fällen, wir tauschen uns aus und suchen Lösungen. Dazwischen die Kinder die bereits zurück in der Familie sind, die werden ja auch weiterhin von uns betreut. Die brauchen Schuldgeld, Essen, Schuluniformen, Geld für Transport zur Schule, Medikamente, etc….

Manchmal kommen sie auch um zu reden, wenn mit den Eltern nicht alles gut läuft, wenn’s Probleme gibt. So ein Gespräch kann auch schon mal 2 Stunden dauern. 

Dazu kommen die Gespräche mit den Eltern deren Kinder noch bei uns wohnen. Bevor wir Kinder zurückführen, gibt es wöchentliche Gesprächsrunden um zu ergründen was falsch lief und was wir verändern können, damit die Kinder nicht wieder weglaufen.

Montags und Mittwochs ist vormittags Meeting mit den Sozialarbeitern, wir besprechen die Kinder die bei uns wohnen und auch über die Kinder die wieder zuhause sind, bei denen es aber Probleme gibt. 

Die Woche ist also sehr voll. Und oft geht der Tag so schnell rum und hat viel zu wenig Stunden. 

Ab und zu besuche ich auch den Schulunterricht, der täglich von 10 bis 14 Uhr geht, in der Pause spiele ich mit den Kids oder wir quatschen. 

Diese Woche war sehr anstrengend weil wir so viele neue Kinder haben. Die haben noch ihre Strassenmethoden inne und lösen alles mit den Fäusten. Entsprechend viele Streitigkeiten mussten geschlichtet werden, Schlägereien unterbrochen, Gespräche geführt werden.

Ab und zu auch mal etwas lauter. Denn wenn 19 Jungs aufeinander losgehen, dann kann das schon mal drunter und drüber gehen, dann hilft nur noch ein lauter Schrei.

Es wurde diese Woche nicht besser. Wir haben noch 3 Kids bei uns die schon vor 3 Wochen da waren und mit dabei waren, als wir einen Ausflug zum Strand gemacht haben. Das hat sich rumgesprochen. Natürlich wollen die anderen nun auch zum Strand. 

Das hat mich diese Woche gerettet. Denn meine Schwester hat mir mal gesagt, Kindererziehung ist irgendwie Bestechung und Erpressung. Das habe ich mir gemerkt. wenn gar nichts mehr hilft, dann Bestechung und Erpressung.

Nach dem letzten Streit bei dem auch ein Stuhl und ein Gürtel zum Einsatz kamen, bin ich ins Jungsschlafzimmer, habe mich hingesetzt und gewartet bis auch der letzte endlich ruhig war.

Ich habe sie gefragt: „ Hab gehört ihr wollt zum Strand? Und ihr wollt ein Fussball Spiel gegen die Kids aus den Slums? Ihr wollt also zwei Ausflüge machen?“

Da waren sie sich natürlich einig, ja das wollen wir, wann gehen wir?

Habe dann gesagt, dass in dem momentanen Zustand weder die Betreuer noch ich Lust haben, mit ihnen irgendwohin zu gehen. Wenn sie es schaffen, 2 Wochen ohne Schlägerei, dann fahren wir alle zusammen zum Strand. Und plötzlich hatte ich 19 Lämmchen vor mir. Yes Ma, Yes Ma, wir sind brav, kein Streit mehr. Naja, wir werden sehen. Wenn sie es nicht schaffen, beginnt die Zählung der 14 Tage von vorne :-)

Zwischen all dem Chaos musste ich dann noch in die Slums, weil wir da diese Woche eine Aufräum-Aktion gestartet haben. Es gibt keine Müllabfuhr, teilweise ersticken die Leute im Müll. Also habe ich Geld organisiert für Schaufeln, Mülltüten, etc. Und versprochen zu helfen, wenn die Bewohner auch helfen. Ich musste Gott sei Dank nicht mithelfen, denn das hätte mich echt Überwindung gekostet. Aber die Leute dort haben die ganze Woche geschaufelt und geschufftet und tatsächlich sieht es schon etwas besser aus.

Und da ich eh schon da war, habe ich gleich 2 unserer Toilettenhäuser begutachtet für die ich bereits die Kostenvoranschläge vorliegen habe. Die werden in den nächsten 3 Wochen renoviert. Das muss natürlich auch überwacht werden. 

Dazu kommt dann noch das Kinderkrankenhaus. Da hat meine Kollegin Carina alles Griff und ich habe wenig damit zu tun, allerdings führe ich auch hierfür die Kasse und bezahle Medikamentenlieferanten die auch alle 2-3 Tage bei mir auflaufen.

Meine Tage sind meist sehr stressig. 60 Angestellte und 26 Kinder (27 mit Fifi), da ist schon ganz schön was los. Regelmässige Meetings mit allen, immer ein offenes Ohr für Probleme. Ständig ist ein Familienmitglied der Angestellten krank oder stirbt. Ich kann euch sagen, ganz schön was los bei mir.

Aber, es macht super viel Spaß. Wir sind eine kleine/große Familie, achten aufeinander, hören einander zu.

Und immer wenn es die Zeit erlaubt, dann fahre ich mit Sozialarbeitern raus und besuche die Kinder, die schon wieder zuhause sind. Oder die Kinder/Jugendlichen die eine Ausbildung Dank Cap Anamur machen können. Ich besuche sie in der Schule. 

Zwischendurch dann immer mal wieder ein besonderes Ereignis, wie die Namens-Gebungs-Feier der Tochter einer meiner Sozialarbeiterinnen. Da war ich natürlich eingeladen und es war toll mal sowas zu Erleben. Hat Ähnlichkeit mit einer Taufe.

Nur, dass hier direkt neben mir einer Ziege die Kehle durchgeschnitten wurde. Wenn der Name verkündet wird, muss die Ziege ihr Leben lassen. Das war schon etwas merkwürdig. Und auch nicht sehr angenehm, die hat mich 5 Minuten vorher noch mit ihren großen Augen angeguckt und zack war sie tot. Ich habe mir schon sowas gedacht als ich den Ziegenhirten mit dem großen Messer gesehen habe….

Meine Woche ist vollgepackt mit Reden, Organisieren, Zuhören und Problemen lösen. Es ist immer laut und immer sind viele Menschen um mich herum. Mittagessen tu ich immer mit den Kids zusammen, und wer sonst noch so in der Küche ist. Das ist das einzige was wirklich jeden Tag gleich ist. Das lasse ich mir auch nicht nehmen. Ich geniesse es, wenn wir alle zusammen in der kleinen Küche, aneinander gequetscht unser Essen geniessen. Natürlich geht es auch hier laut und aufgeregt her. Daher sind meine Wochenenden umso leiser. Dieses Wochenende bleibe ich nur zuhause, ich hab nicht mal Lust auf Strand. Einfach nur die Ruhe geniessen. Und natürlich meine Statistiken, Berichte und Kassenbücher fertig zu machen. Denn die sind ja auch einmal im Monat fällig. Schliesslich wollen meine Chefs in Köln ja wissen was bei uns so los ist.

Ganz schön viel ist bei uns los. Und ab nächster Woche ziehen auch wieder 2 Ärzte in unsere WG, dann sind wir wieder zu fünft und ich freue mich schon auf neue Gesichter.

Für heute mache ich Schluss, bin kaputt. Statt zu faulenzen haben wir heute das untere Stockwerk geputzt, alle Schränke entrümpelt und ausgewischt. Muss ja auch mal sein. Vielleicht hilft das ja, die Kakerlaken, Mäuse und Ratten etwas zu reduzieren :-)

Kakerlaken jucken mich nicht, aber mittlerweile hasse ich die Ratten und Mäuse. Habe Gift ausgelegt, ich hoffe, das hilft. Ansonsten muss demnächst ne Katze ins Haus :-)


Bis bald bei der nächsten Geschichte und habt noch ein schönes Wochenende,

Aunty Becky (so nennen mich die Kinder)


Mein Leben in Freetown


Wie ist das Leben in einem der ärmsten Länder der Welt? Was ist so anders? Was ist ähnlich meinem vorherigen Leben? Musste ich mich sehr anpassen? Habe ich mich schnell eingewöhnt?

Auf all diese Fragen bekommt ihr heute eine Antwort.

Zuerst aber noch für Alle, denen ich noch nicht persönlich geschrieben oder mit denen ich persönlich gesprochen habe: Ein glückliches, gesundes und aufregendes 2019!


So richtig weiß ich gar nicht wo ich anfangen soll.

Vielleicht beim Alltag zuhause in meiner WG. Was ist der Unterschied zu meinem wohlbehaltenen, gemütlichen Leben in Deutschland? Das fängt schon an der Tür an, die ist hinter einer Mauer, auf der Mauer Stacheldraht und einzementierte Scherben. Verbrecher gleich an der Mauer aufhalten. Wobei es hier wirklich sicher ist, im Vergleich zu anderen Ländern. Ich habe keine Angst, dass hier jemand einbricht. Und da sind ja auch noch unsere Security Jungs die auf uns aufpassen. Zwei in der Nacht, einer am Tag. Die gehören irgendwie auch zu unserer WG. Wenn es die Zeit erlaubt, dann gibt es lange Diskussionen, über Deutschland, über Sierra Leone, die Unterschiede, das Elend, den Luxus. Eine lange Diskussion haben wir neulich über Kühlschränke geführt. Es war für die Jungs völlig unverständlich wie man seine Wohnung aufheizen kann, für viel Geld, um das Essen dann im Kühlschrank zu kühlen. Das ist doch nicht logisch. Stimmt, wenn man so drüber nachdenkt, dann könnte man das Essen einfach rausstellen und der Kühlschrank ist überflüssig. Zumindest im Winter. Erklär mal jemandem hier, dass du in Deutschland für verrückt gehalten wirst, wenn du keinen Kühlschrank hast. Für die Leute hier klingt es verrückt erst zu heizen um dann zu kühlen. Macht auch irgendwie keinen Sinn.

Tja, solche Diskussionen führen wir ständig. Viele Probleme in Deutschland erschaffen wir uns selber. Luxusprobleme.

Gleichzeitig lehren sie mich auch ihre Landessprache, Krio. Tatsächlich kann ich schon relativ viel verstehen und auch ein bisschen sprechen. Werde Woche für Woche besser.

Und wo ich grad dabei bin, euch zu erklären, was hier so anders ist, fällt mal wieder der Strom aus. Das passiert ständig. Also achte ich immer darauf, dass möglichst alle technischen Geräte aufgeladen sind. Klappt meistens, nicht immer. Manchmal haben wir auch kein Wasser. Das ist natürlich bei diesen Temperaturen nicht so toll, wenn man duschen will und es gibt kein Wasser. Noch besser ist, wenn man eingeseift unter Dusche steht und es hört auf zu fliessen. So ist das Leben hier. Es gibt vieles, aber halt nur immer. Was es in Überzahl gibt, sind Kakerlaken. Die sind überall. Ich habe auch noch nie versucht sie zu töten oder zu verjagen. Verschwendete Energie. Zu schnell die Viecher und es sind einfach zu viele. Die sind übrigens überall, auch im Kühlschrank. Letztens kam mir eine aus dem Gefrierfach entgegen. Unfassbar wo diese Tiere überall reinkriechen. Aber mich stören Kakerlaken nicht. Die tun ja nix. Eklig finde ich die fetten Ratten, bei meiner Arbeit passiert es oft, dass plötzlich so ne Ratte an mir vorbei tippelt. Oder Mäuse im Büro. Oder Termiten die meinen Schreibtisch fressen, ein paar Mal täglich muss ich den Tisch putzen weil die Termiten ihre Hügel hinterlassen. Dank meiner Vor-Erfahrung bin ich eigentlich relativ relaxed, habe mich superschnell eingelebt. Solange hier keine Schlange auftaucht, ist alles gut. Den Alltag bewältige ich also ganz gut.

Bei der Arbeit ist es manchmal etwas anstrengend. Da unser Kinderhaus mitten im Chaos liegt, ist es immer super laut, Abends platzt der Kopf. Man braucht auch immer erstmal ein bisschen Ruhe. Die Menschenmassen den ganzen Tag, das ist schon nervig.

Riechen tut es auch nicht immer gut. Eigentlich riecht es nie gut. Den Müll entsorgt man hier durch verbrennen. Ich habe häufig Kopfweh und meine Augen brennen ständig, weil der Gestank den brennendes Plastik oder verbrannte Autoreifen hinterlassen, der bohrt sich echt in dein Gehirn. Ich bin mittlerweile ein „Fast-Vegetarier“ geworden. Es gibt kaum Fleisch, wenn dann Hühnchen, das aber den ganzen Tag auf dem Markt in Sonne liegt, da verzichte ich lieber. Seit 6 Wochen also kein Fleisch. Was ich aber ab und zu genieße ist Fisch. Der kommt direkt vom Meer auf den Teller. Ich bin ein Fan von Barrakuda geworden. So lecker! Im Pikin Paddy esse ich morgens fast immer trockenes Brot, die sonstigen Bewohner schmieren sich irgendeinen Fischmatsch aufs Brot, nicht meins. Mittags besteht mein Essen seit 6 Wochen aus Reis mit Bohnen. Ich bin noch nicht soweit, zerstampfte Hühnerfüße mit Fisch zum Reis zu essen. Vielleicht werde ich nie soweit sein. Aber das macht ja nix. Reis und Bohnen machen satt, auf mehr kommt es nicht an. Manchmal bin ich über mich selber erstaunt, wie schnell und gut ich mich hier eingewöhnt habe. Verzicht macht mir gar nix aus. Wir haben alles was wir brauchen. 

Manchmal (oft) keinen Strom, manchmal kein Wasser, ein einfaches Leben, für hiesige Verhältnisse doch im Luxus. Ich wohne in einem normalen Haus, habe immer was zu essen, somit geht es mir weitaus besser als den meisten anderen hier. 

Ich fühle mich sehr wohl und meine Arbeit macht super viel Spaß. Die Kids von der Straße zu holen, die Bewohner der Slums in Hygiene Dingen zu schulen, Toiletten und Duschen in den Slums zu bauen, um weitere Ausbrüche von schlimmen Epidemien zu vermeiden, das ist so ein gutes Gefühl. Die Menschen hier sind so dankbar wenn man kommt um zu helfen. Ich kenne es auch anders, wenn man als Weißer nicht ganz so willkommen ist. Hier ist jeder sehr freundlich, hilfsbereit, warmherzig. Die Menschen hier passen auf mich auf, bringen mir ihre Sprache bei, haben immer Zeit für ein paar Worte. Ich fühle mich so willkommen. Zu keiner Zeit vermisse ich Dinge die in Deutschland jederzeit verfügbar waren. Man kommt hier gar nicht auf den Gedanken. Man ist dankbar dafür wie gut es einem geht. 

Ich bin erst 6 Wochen hier, es fühlt aber schon an wie eine Ewigkeit. Ich fühle mich bereits zuhause. Ich bin erst 6 Wochen hier, aber ich habe schon so viele tote Menschen gesehen. Am schlimmsten ist es, wenn ich meine Kollegen im Krankenhaus besuche. In einer Woche sterben hier 40-60 Kinder. Bei meinem ersten Besuch bin ich direkt dazu gelaufen wie ein kleines, unterernährtes Baby reanimiert wurde. Leider hat das Baby es nicht geschafft zu überleben. So ein kleines Kind sterben zu sehen, das ist nicht ganz einfach. Mittlerweile habe ich ein paar mehr sterben sehen und ich gewöhne mich etwas daran. Es geht mir immer noch sehr nah und beschäftigt mich. Denn es ist so unnötig. Viele Kinder könnten überleben, wenn das Equipment da wäre. Aber hier arbeitet man mit dem Minimum. Der Tod ist hier alltäglich. Ich gewöhne mich daran, betrachte es mit Abstand, lasse es nicht an mich heran. Ich halte mich an den guten Dingen fest. Die vielen Kinder die überleben, weil wir Medikamente spenden und für ärztliche Unterstützung sorgen.

Die vielen Kinder die wir von der Straße holen, wo sie im Müll schlafen und sich von Müll ernähren, wo sie missbraucht werden und geschlagen. 

Daran halte ich mich fest. Zu sehen, wie sie nach ein paar Tagen im Pikin Paddy aufblühen, wie sie Berge von Essen in sich reinstopfen weil sie ausgehungert sind. Wie sie eine Dusche und ein echtes Bett geniessen.

Ich halte mich daran fest, zu sehen wie Familien wieder zusammen finden, Kinder nach Hause kehren, wie dankbar und erfreut die Familien sind, wenn wir sie mit einem Bett und einem Tisch unterstützen. Wenn die 5-köpfige Familie ein Bett in ihren 8qm Raum stopfen und dann alle zusammen in dem Bett schlafen. Die Dankbarkeit der Familien. Das Leuchten in den Augen der Kinder. Das Leuchten in den Augen der Eltern, wenn sie ihre Kinder wieder in den Arm nehmen können, wenn sie sehen, ihre Kinder wurden gerettet, sind noch am Leben. Das ist soviel. So unglaublich viel. Alles andere verliert an Bedeutung. Die schlimmen Erlebnisse verblassen. Sie sind noch da, irgendwo in meinem Kopf. Aber weit hinten.

An Weihnachten lag mein kleinster Neffe im Krankenhaus, mit einer fiesen Infektion und hohem Fieber. Als ich mit meiner Schwester telefoniert habe, kam ich gerade vom Krankenhaus, wo sie tote Babys an mir vorbei getragen haben. Und das hat mich dann doch umgehauen. Weil ich so sehr an meine Neffen und meine kleine Nichte erinnert wurde. Ich musste daran denken, dass sie ungefähr so alt sind, wie die Kinder hier im Krankenhaus. Ich konnte so mit den Eltern hier mitfühlen, weil mein Neffe auch krank war. Ihm geht es wieder gut. Vielen Kindern hier nicht. Sie sind unterernährt, sterben an Malaria, manchmal auch an einer Wunde die hier einfach nicht richtig versorgt wird und nicht heilt und dann zur Blutvergiftung führt.

Einfach ist es manchmal nicht. Aber ich bin sehr dankbar, dass ich einen kleinen Teil dazu beitragen kann, das Leben für Manche hier besser zu machen. Was da zurückkommt, das kann man mit Geld nicht aufwiegen. Kein Gehalt der Welt gewinnt das Rennen gegen ein gesundes Kind, gegen die glücklichen Augen von Eltern und Kindern. 

Das Leben hier ist hart. Keine Frage. Aber wir machen das Beste daraus. Wir tauschen uns aus. Meine Kollegin (Krankenschwester im Krankenhaus das wir unterstützen) Carina und ich, wir reden jeden Abend. Und manchmal reden wir auch über ganz banale Dinge. Wir freuen uns wenn unser gut gebauter Security Mann sein Tshirt auszieht und wir uns einfach mal an dem Anblick erfreuen. So ein einfaches Geblödel muss sein. Das zieht uns aus den Löchern. Das macht alles halb so schlimm. Geteiltes Leid ist halbes Leid, da ist was dran.

Aber wir sehen auch sehr viel schönes. Wir geniessen unsere Wochenenden am Strand. Manchmal nehmen wir die Kids mit, manchmal wollen wir einfach nur Strand, uns selbst und ein gutes Buch. Dieses Land ist wunderschön, die Menschen sind absolut liebenswert und am Ende kann ich sagen:

Ich bin glücklich hier, trotz manch schlimmer Umstände, ich genieße meine Zeit hier und fühle mich sehr wohl.

 Welcome to Freetown/Sierra Leone


Ich weiß, ich weiß, ihr wartet wahrscheinlich schon auf einen ersten Bericht. Ich bin nun seit fast einem Monat in Freetown, Sierra Leone (oder Salone wie es auf Krio heisst) und habe mich schon ziemlich gut eingelebt. In den letzten Wochen war ich fast ständig unterwegs, entweder arbeiten oder mit meinen Team Kollegen auf Erkundungstour. Und Abends dann so ausgelaugt, dass ich keine Kraft und Muse mehr hatte, mich an den Laptop zu setzen. Nun ist es 19 Uhr am Sonntagabend und ich komme von einem Wochenende am Strand zurück, versuche ich ein paar Zeilen zu Papier zu bringen. Wie war die Ankunft, habe ich mich schon eingelebt?

Ich bin um 2 Uhr Nachts angekommen. Immer noch sehr warm und schwül. Am Flughafen wurde ich von Mohammed abgeholt, er ist einer der Büro-Assistenten. Der Flughafen Lunghi liegt auf einer Insel vor Freetown. Freetown liegt in einer Bucht und bis auf das Stadtzentrum liegt Freetown verteilt auf Bergen um die Bucht herum. Das bedeutet, es geht immer auf und ab. Für einen Flughafen keinen Platz, daher auf einer Insel. Von dort kommt man entweder mit der Fähre oder mit dem Speedboot zum Hafen. Ich fuhr mit dem Speedboot, Nachts fährt keine Fähre mehr. Vollgestopft zwischen lauter Passagieren, mit der Rettungsweste an, hatte ich das Gefühl bald das Zeitliche zu segnen. Unglaublich heiss, schwül, stickig. Dort machte ich meine erste Bekanntschaft mit der Gläubigkeit der Menschen hier. Alle Einwohner Sierra Leone’s sind sehr gläubig. Christen und Moslems leben friedlich zusammen, akzeptieren den Glauben des Anderen. Auf dem Boot ging dann direkt nach der Abfahrt das Beten los. Nicht wie man es in Deutschland kennt. Eine Frau stand auf und fing an zu laut zu beten, sehr laut, fanatisch, schreiend, und dazwischen immer wieder Gesang von allen Anwesenden. Es hörte sich an wie ekstatisches, verzweifeltes Rufen. Nach einem langen Flug kann das ziemlich anstrengend sein, aber so ist es hier nun mal. Den ganzen Tag sieht man immer wieder Leute beim Gebet. Hört die Gebete der aus den Moscheen durch das Megaphon.

Endlich am Hafen angekommen, traf ich auf meinen Team Kollegen aus Deutschland und unserem Fahrer Lamin. Die beiden haben mich in mein neues Zuhause begleitet. Die Stadt war ruhig und schien zu schlafen. Das hält aber nur für ca. 2-3 Stunden. Die Stadt schläft wenig. Es immer laut. Ultralaut. Laute Musik ständig. Gebetsrufe. Hupende Autos. Das Kinderschutzhaus in dem ich arbeite liegt mitten im Zentrum. Direkt angrenzend an die Slums, inmitten des Marktes. Von Arbeitsbeginn bis Arbeitsende bin ich unter Dauer-Beschallung. Abends habe ich oft das Gefühl, mein Kopf explodiert. Ich mag mich oft gar nicht mehr mit meinen Mitbewohnern unterhalten oder ziehe mich gerne in mein Zimmer zurück. Zur Ruhe kommen nimmt hier eine große Bedeutung ein.

Mein erster Eindruck von Sierra Leone? Schlimmer und schöner als ich erwartet habe.

Ich habe schon einige Slums gesehen. Die immer an die Stadt angrenzten. Aber Freetown ist anders, Freetown ist ein einziger Slum. Wenige geteerte Straßen, meist Sandpisten, alle Straßen mit riesigen tiefen Schlaglöchern. Überall Blechhütten, dazwischen Häuser aus festem Mauerwerk, die aber auch abbruchreif sind. Das große Township hier, ist schlimmer als ich es bisher gesehen habe. Die Menschen leben mitten im Müll. Mitten durch fließt ein kleiner Fluß, in dem sich Schweine im Dreck und Müll wälzen. Die Armut in diesem Land ist groß. Sehr groß. Die Menschen sind so arm, dass sie selbst die Eselskarren selbst ziehen, weil es keine Esel oder Rinder gibt.

Ich habe in der letzten Zeit schon soviel gesehen und erlebt, dass ich eigentlich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.

Vielleicht mit den Menschen. Noch in keinem Land habe ich je so freundliche und warmherzige Menschen getroffen. Hilfsbereit und absolut liebenswert. Die Menschen hier haben mich so herzlich willkommen geheissen, dass ich mich seit Anfang an schon wie zu Hause fühle. Die Menschen sind so dankbar und glücklich über die Europäer die herkommen um zu helfen, ich fühle mich rund um die Uhr sicher und aufgehoben. Kein Vergleich zu Namibia oder Südafrika. Dort hat man ständig Angst, ausgeraubt zu werden, natürlich mit Waffengewalt.

Hier ist das nicht so. Mich sprechen fremde Leute an, wenn ich mal etwas unvorsichtig bin, nimm deine Tasche nach vorne vor die Brust, steck dein Handy ein, etc..

Wenn es tatsächlich mal zu einem Diebstahl kommt, was sehr selten passiert (gegenüber Weißen), dann ist sofort eine Gruppe Menschen da, die einem hilft und deinen Besitz zurückholt. Dem Dieb ergeht es leider nicht so gut. Manchmal denkt man sich, nimm das Handy und renne um dein Leben. Häufig gibt es hier noch Selbstjustiz. Und der Beschuldigte macht sich besser schnell aus dem Staub. Oft genug überlebt er seinen kleinen Diebstahl nicht.

Als wir am Freitag von der Arbeit nach Hause gefahren sind, hat eine Gruppe von jungen Männern einen Mann verfolgt. Direkt vor unserer Motorhaube haben sie ihn dann erwischt. Was auch immer

 der Mann getan hat, ich weiß es nicht, aber was dann passiert ist, konnte ich nicht mit ansehen. Sie haben ihre Gürtel aus der Hose gezogen und ihn damit ausgepeitscht, nicht aufgehört, auch als er auf dem Boden lag, immer weiter, Blut überall, Schreie, es war kaum mit anzusehen. Ich habe es auch nicht geschafft, zuzusehen ohne einzugreifen. Es ging wahnsinnig schnell, ich konnte kaum richtig nachdenken, irgendwie hat mein Instinkt mich geleitet. Ich bin hinten aus dem Auto gesprungen, zur Verwunderung meiner Kollegen und meines Fahrers. Aber ich habe nicht darüber nachgedacht ob mir etwas passieren könnte, ich bin einfach meinem ersten Gefühlt gefolgt und zu der Gruppe gerannt. Natürlich ging gleich das Geschrei los: „Opodo, Opodo.“ Weißer, Weißer! Bevor ich die Jungs erreicht hatte, haben sie den Verfolgten auf die Beine gezerrt und sind los gerannt. Ich hinterher. Mein männlicher Kollege hat sich mir glücklicherweise angeschlossen. Nachdem er mir noch zugerufen hat: „Los, die ziehen ihm sonst die Haut ab, das überlebt er nicht.“ stand mein Entschluss fest, ich muss was tun.

Wir haben uns aufgeteilt, jeder auf einer Seite der Straße. Es war nicht ganz einfach die Verfolgung aufzunehmen, zu viele Menschen, Autos. Ihr müsst euch die Straße in der ich arbeite so vorstellen: Jahrmarkt in Gaggenau, Sonntag Nachmittag, Menschenmassen, Stände, und mitten drin ist das Haus in dem ich arbeite. Wenn unser Auto aus der Garage fährt, räumen die Marktfrauen kurz ihren Stand zur Seite und wir fahren mitten durch den Markt. Manchmal brauchen wir für 500 Meter mehr als 45 Minuten.

Nun in diesem Chaos aus Menschen, Autos, Geschrei, lauter Musik, Gebetsrufen, sind wir hinter der Gruppe von Männern her. Natürlich kannten sie sich besser aus und sind in irgendeiner Gasse verschwunden. Wir haben den halben Markt abgesucht, erfolglos. Also wieder zurück zum Auto und weiter. Ich konnte kaum sprechen, geschockt, was da eben passiert ist. Erst da habe ich so richtig begriffen, realisiert. Davor habe ich einfach reagiert.

Ich denke nicht, dass mir etwas passiert wäre, vielleicht hätte ich aus Versehen einen Hieb mit dem Gürtel abbekommen, aber absichtlich hätte keiner die Hand gegen eine weiße erhoben. Sie kennen mich in dem Viertel, in den Slums. Sie wissen, das ist die Frau die hilft, die Kids von der Straße holt, die Jobs vergibt. Hätte einer gewagt mich anzufassen, dem wäre es wohl nicht gut ergangen. Das Viertel kennt mich unter Aunty Becky (Tante Becky) und sie mögen mich. Deshalb war ich wohl so mutig, mich in diese Situation stürzen zu wollen, ich wusste ja, mir passiert schon nix. Als wir fast das Ende des Marktes erreicht hatten, kam die Gruppe plötzlich zurück, den Verfolgten in ihrer Mitte, alle blutig und mit zerrissenen Shirts, sie haben ihn tatsächlich in der Polizeistation abgegeben. Das hat mich sehr verwundert. Passiert nicht oft. Und ob es ihm als Dieb da besser erging, ist fraglich. Aber wie mein Kollege gesagt hat: „ Naja, immerhin ist er am Leben.“

Die nächsten Wochen werdet ihr viele Seiten von Sierra Leone kennenlernen. Das ist eine. Man nimmt das Gesetz oft selbst in die Hand. Gewalt oder Tod gehört dazu. Das kleine Land hat so viel hinter sich. Die meisten haben den Bürgerkrieg live mit erlebt, das Ende ist erst 16 Jahre her. Gewalt und Tod war hier lange Zeit allgegenwärtig.

Aber diese Gewaltbereitschaft ist nur dann da, wenn es in deren Augen darum geht, jemanden zu bestrafen, wenn es nicht anders geht. Natürlich geht es anders, aber soweit sind die Menschen hier noch nicht. Bis auf solche Zwischenfälle, ist es ruhig in Freetown. Verschiedene Religionen leben hier friedlich nebeneinander. Man ist freundlich und nett, herzlich und immer in Plauderlaune. Es gibt wenig Kriminalität. Ich hatte es mir etwas anders vorgestellt. Ich habe mich tatsächlich noch nicht ein einziges geängstigt, fühle mich immer sicher und sehr wohl.

Ich bin angekommen. Schneller als ich dachte. Tiefer als ich dachte. Ich fühle mich bereits nach einem Monat als wäre ich schon ewig hier. Der Alltag hier fällt mir leicht. Was ich sehe, höre und erlebe, fällt mir oft schwer. Ich bin froh, dass ich hier bin. Meine Arbeit ist so unglaublich sinnvoll. Erfüllend. Manchmal schwer zu ertragen. Aber immer, absolut immer, so voller Sinn.

Was ich mache? Was unser Konzept ist? Es gibt fünf Phasen:

1. Tracking: Beim Tracking machen wir uns Nachts, wenn die Stadt schläft auf den Weg durch

die Stadt. Es werden Kinder auf den Straßen Freetowns aufgesucht und in unser Kinderschutzhaus „Pikin Paddy“ eingeladen. Das Haus ist unter den Straßenkindern mittlerweile so bekannt, dass sie teilweise von selbst kommen und um eine Aufnahme bitten.

2. Family Tracing: Im Schutzhaus bekommen die Kinder ein richtiges Bett, ordentliches Essen und Kleidung, sowie in der Zeit ihres Aufenthaltes Schulunterricht. Unsere Sozialarbeiter versuchen in der Zeit die Familienangehörigen zu finden und suchen diese auf.

3. Mediation: Ist die Familie gefunden, stellen unsere Sozialarbeiter den Kontakt her. Die Kinder bleiben während der Mediation weiterhin im Pikin Paddy. Es wird geprüft warum das Kind die Familie verlassen hat und auf der Straße gelebt hat.

 4. Reunification: Nach der ausführlichen Überprüfung der Familie durch Cap Anamur Sozialarbeiter werden zusammen mit allen Familienangehörigen Lösungsansätze erarbeitet. Die Kinder kehren nach Hause zurück.

5. Follow-up: Die Kinder werden regelmäßig in ihren Familien besucht und die Unterstützung der jeweiligen Situation angepasst. Bei stabilen häuslichen Gegebenheiten vergrößern sich die Besuchsabstände.

Dieses Jahr wurden 80 Kinder ins Kinderhaus aufgenommen. 59 Kinder sind bereits zurück in ihrer Familie. 17 Kids befinden sich aktuell im Pikin Paddy und bei 4 Kindern war keine Vermittlung möglich, da die Familien nie gefunden wurden. Von den 59 Kids die wir in die Familien zurück gebracht haben, sind aktuell leider 5 wieder zurück auf der Straße. Das passiert manchmal. Aber der Erfolg liegt trotzdem bei über 90 Prozent.

Wir behalten, bis auf wenige Ausnahmen, die Kinder also nicht bei uns, sondern versuchen Probleme in Familien zusammen mit allen Beteiligten zu lösen, zu unterstützen und eine dauerhafte Lösung zu finden. Nachhaltige Arbeit.

Es macht einfach Spaß, die Kids sind toll. Dankbar. Und ich bin auch dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, einen so tollen Job auszuüben.

Auch wenn es manchmal hart ist. Sehr hart.

Mehr über die Kids, meine Arbeit, das Leben in einem der ärmsten Länder der Welt, bald, ganz bald, versprochen. Und künftig auch regelmäßiger.

Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch. Für`s neue Jahr wünsche ich euch Gesundheit, achtet auf euch, besinnt euch ab und zu auf das Wesentliche, seid dankbar. Für euer Leben, eure Familie, eure Gesundheit.

Passt auf euch auf,

Aunty Becky


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